Kuss des Feuers
ihn. Ein ihm völlig fremdes und höchst unangenehmes Gefühl. Er fing an, sich zu bewegen und trat und schlug mit Armen und Beinen. Die Fesseln, mit denen man ihn gebunden hatte, rissen, als er fiel.
»Gütiger Himmel! Er lebt!«
Krachend landete er auf der Erde und sprang sofort auf, während er sich den Sack vom Kopf riss.
»Fasst ihn!«
Archer erhaschte einen Blick auf eine dunkle Gasse und einen nassen Holzsteg. Dann stürzten sie sich auch schon auf ihn. Archer grinste breit, als er unter einem Schwall von Armen, Fäusten, Füßen und Beinen begraben wurde. Wie Hagel prasselten die Schläge auf ihn ein. Er ließ sie sich verausgaben, ehe er seine Rechte einsetzte. Der Moment, Gnade walten zu lassen, war vorbei. Er schlug mit aller Kraft zu und hörte den befriedigenden Klang brechender Knochen, als der Kiefer eines Mannes mit seiner Faust in Berührung kam. Sein Fuß traf den nächsten mitten auf den Bauch und ließ den Schläger in einen Müllberg segeln. Jetzt waren noch zwei übrig, die mit Messern auf ihn zukamen.
Er wirbelte herum, packte den Arm des einen, brach ihm das Handgelenk und rammte ihm die Stirn gegen die Nase. Es knackte und knirschte. Dann kam es über ihn. Ein weißer Nebel der Wut, der sein Blut zum Kochen brachte und sein Herz immer schneller schlagen ließ. Licht. Kraft. All das strömte durch seinen Körper.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass ihn niemand mehr angriff. Man hörte nur noch ein Gurgeln, als würde sich Wasser durch einen verstopften Abfluss kämpfen. Archer zwinkerte, sein Blick wurde wieder klar, und er stellte fest, dass er einen Hals umklammerte und immer noch dabei war, dem Mann die Luftröhre zu zerquetschen. Einem großen Kerl, fast so groß wie er selber. Archer hielt ihn hoch über dem Boden in der Luft und presste das Leben aus ihm heraus.
Hör auf!
Mit hervorquellenden Augen zerrte der Mann hilflos an Archers Hand, die in einem Handschuh steckte. Er gurgelte noch einmal, dann hörte er auf zu zappeln. Trotzdem hielt Archer ihn weiter hoch und umklammerte die fleischige Kehle. Er war nicht in der Lage, seinen Griff zu lockern. Archers Brust hob sich, als er tief Luft holte.
Der Kerl erschlaffte.
Hör auf!
Der Mann krachte zu Boden. Archer starrte seine Hand an. Nur mit der Kraft seiner linken Hand hatte er den Mann umgebracht. Mit seiner menschlichen Hand. Zitternd zog er seinen Handschuh aus und war fest davon überzeugt, dass seine Haut anders aussehen müsste. Doch seine Hand bot einen ganz normalen Anblick, und das ließ eine Woge der Erleichterung über ihm zusammenschlagen. Er sank auf die Knie und streckte und beugte die Finger versuchsweise. Noch keine Veränderung festzustellen, auch wenn sie stärker geworden waren.
Um ihn herum lagen die Leichen der Männer, die er umgebracht hatte. Wie Diamantenstaub wölbte sich der Himmel über ihm und wurde nur von schwarzen Rauchwolken getrübt, die der Wind mit sich trug. Er blockte nach oben und atmete tief ein. Der Blutdurst, der weiße Nebel – noch nie zuvor hatte er den Sog so stark gespürt. Scham überkam ihn. Er sollte gehen und diese Männer der Nacht überlassen. Als er die Leichen hinter sich ließ, klangen seine Schritte hohl auf dem alten Holz.
Er fühlte sich völlig leer, wollte sich zu einer hilflosen Kugel zusammenrollen, um den Schmerz ertragen zu können. Er hatte seine Hände mit Mord befleckt! Diese Erkenntnis strömte wie eine Droge durch sein Blut, die immer mehr wollte. Er war dabei, den Kampf zu verlieren.
Trotz seines festen Entschlusses, auf Abstand zu bleiben, ertappte Archer sich dabei, wie er vor der strahlend weißen Tür zu Mirandas Zimmer stand. Unschlüssig, ob er klopfen sollte, hielt er mit erhobener Faust inne. Er war sicher, ein leises Schluchzen in ihrem Zimmer gehört zu haben, als er daran vorbeigeschlichen war.
Seine Finger verkrampften sich. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Jetzt war nichts mehr zu hören, außer dem gleichmäßigen Ticken der Standuhr und dem leisen Ächzen und Stöhnen eines Hauses, das sich zur Ruhe begibt. Er wollte sich schon abwenden, als … Da! Wieder war ein erstickter Laut zu hören. Miranda weinte. In ihr Kissen, wie er vermutete. Er schluckte, um sein wild schlagendes Herz zu beruhigen, wappnete sich und klopfte. Sofort war alles still, wie erstarrt. Und dann …
»Ja?« Ihre Stimme klang heiser und ängstlich.
Sofort erfasste ihn Unruhe. »Miranda«, sagte er. »Geht es dir gut?«
Schweigen schlug ihm entgegen.
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