Kuss im Morgenrot: Roman
sich nicht verkneifen konnte zu fragen: »Dürfte ich Sie kurz sprechen, Mylord?«
»Unbedingt«, lautete seine mürrische Antwort. »Ich kann es kaum erwarten, einen neuen Streitpartner zu bekommen.«
Sie betrat den Raum, und Cam und Merripen wichen zur Seite. Mit einer entschuldigenden Geste fragte sie die beiden: »Könnte ich kurz unter vier Augen mit Lord Ramsay sprechen …?«
Cam warf ihr einen ungläubigen Blick zu, sichtlich verwundert, welchen Einfluss sie auf Leo auszuüben gedachte. »Tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, damit er diese Medizin trinkt, die auf seinem Nachttisch steht.«
»Und wenn das nicht hilft«, fügte Merripen hinzu, »probieren Sie es mit einem harten Schlag auf den Schädel mit diesem Schürhaken da.«
Dann verließen die beiden das Zimmer.
Sobald sie mit Leo allein war, näherte sie sich dem Bett. Der Anblick des Pfahls, der in seiner Schulter steckte, ließ sie zusammenzucken. Blut sickerte aus dem aufgerissenen Fleisch. Da es keinen Stuhl gab, auf den sie sich hätte setzen können, ließ sie sich vorsichtig auf dem Bettrand nieder. Sie blickte Leo fest in die Augen, und ihre Stimme war weich, als sie ihn fragte: »Warum wollen Sie das Laudanum nicht einnehmen?«
»Verdammt, Marks …« Er schnaubte. »Ich kann nicht. Glauben Sie mir, ich weiß, wie es sich ohne Betäubung anfühlen wird, aber ich habe keine Wahl. Es …« Er hielt inne und wandte den Blick ab. Sein Kiefer begann wieder zu zittern.
»Warum?« Catherine wollte ihn so unbedingt erreichen, ihn verstehen, dass sie instinktiv seine Hand berührte. Da er keinen Widerstand leistete, fasste sie sich ein Herz und glitt mit ihren bandagierten Fingern unter seine kalte Hand. »Erzählen Sie es mir«, drängte sie ihn. »Bitte.«
Leos Hand schloss sich um ihre, und der zärtliche Griff sandte einen Blitz durch ihren Körper. Was sie empfand, war ein Gefühl der Erleichterung, ja, die starke Empfindung, dass etwas genau zusammenpasste. Sie starrten wie gebannt auf ihre Hände und spürten, wie sich zwischen ihren Handflächen und Fingern die Wärme sammelte.
»Nachdem Laura gestorben war«, hörte sie ihn mit belegter Stimme sagen, »habe ich mich sehr schlecht benommen. Noch schlechter als jetzt, wenn Sie sich das überhaupt vorstellen können. Doch ganz egal was ich tat, nichts konnte meinen Schmerz betäuben. Eines Nachts fuhr ich mit einigen meiner verdorbeneren Kameraden in eine Opiumhöhle im East End.« Er hielt inne, als er spürte, wie sich Catherines Hand verkrampfte. »Man konnte den Rauch die ganze Gasse hinunter riechen. Die Luft war ganz braun. Sie führten mich in einen überfüllten Raum, in dem Frauen und Männer gemischt auf Decken und Kissen herumlagen und dösten oder etwas vor sich hin murmelten. Die Opiumpfeifen glühten wie Dutzende kleiner roter Augen, die sich in der Dunkelheit zuzwinkerten.«
»Das klingt wie eine Art Höllen-Vision«, flüsterte Catherine.
»Ja. Und ich wollte ja nichts mehr als die Hölle. Jemand brachte mir eine Pfeife. Schon mit dem ersten Zug fühlte ich mich so viel besser, dass ich fast weinen musste.«
»Wie fühlt sich das an?«, wollte sie wissen, die Hand immer noch fest in seiner.
»Von einer Sekunde auf die andere ist die Welt wieder in Ordnung, und nichts, ganz egal wie düster oder schmerzhaft, kann etwas daran ändern. Stellen Sie sich vor, alle Schuldgefühle und Ängste und all die Wut, die Sie jemals gefühlt haben, sind auf einmal wie weggeblasen, wie die Feder im Wind.«
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Catherine ihn vielleicht dafür verurteilt, dass er sich einer solchen Sünde hingegeben hatte. In diesem Augenblick aber fühlte sie nur Mitleid. Sie konnte den Schmerz, der ihn in solche Tiefen gerissen hatte, verstehen.
»Aber das Gefühl hält nicht ewig«, murmelte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Und wenn es weg ist, geht es dir schlechter als vorher. Du hast überhaupt keine Freude an gar nichts mehr. Die Menschen, die du liebst, sind dir plötzlich gleichgültig. Das Einzige, woran du noch denkst, ist der Opiumrauch und wann du ihn wieder haben kannst.«
Catherine starrte auf sein halb abgewandtes Profil. Es schien ihr praktisch unmöglich, dass sie für denselben Mann das ganze letzte Jahr nichts anderes als Hass und Verachtung übriggehabt hatte. Er hatte ihr den Eindruck vermittelt, als mache ihm nichts wirklich etwas aus, ja, er schien über alle Maßen oberflächlich und zügellos zu sein. Doch im Grunde verhielt es sich
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