Kuss im Morgenrot: Roman
es ein Einzelner hätte leisten können. Also hatten Merripen und Leo vereinbart, die Holzverarbeitung und die Landwirtschaft zu übernehmen, während sich Cam um die Gutsverwaltung und Investitionen kümmerte.
Obwohl Merripen auch hier durchaus befähigt war, übernahm bei medizinischen Notfällen für gewöhnlich Cam die Regie. Er hatte die Heilkunst von seiner Großmutter gelernt und war ziemlich erfahren, was die Heilung von Krankheiten und Verletzungen betraf. Es war besser, ja, sicherer sogar, ihm die Verantwortung für Leos Gesundheit zu überlassen, als einen Arzt zu rufen.
Eine allgemein anerkannte Praxis in der modernen Medizin bestand darin, den Patienten bei fast jeder erdenklichen Erkrankung zur Ader zu lassen, und das ungeachtet aller Kontroversen innerhalb der medizinischen Fachwelt. Statistiker hatten begonnen, Krankheitsverläufe aufzuzeichnen, um zu beweisen, dass der Aderlass überhaupt nichts half, doch er wurde weiterhin praktiziert. Bisweilen wurde der Aderlass sogar bei schwerwiegenden Blutungen durchgeführt, gemäß der Auffassung, dass es immer noch besser sei, als gar nichts zu tun.
»Amelia«, sagte Cam, während er und Merripen den Verwundeten auf sein Bett hievten, »wir brauchen mehrere Kannen heißes Wasser und sämtliche Handtücher, die uns zur Verfügung stehen. Und Win, vielleicht könntet ihr, Beatrix und du, Miss Marks in ihr Zimmer begleiten und ihr helfen?«
»Nein, danke«, protestierte Catherine, »ich brauche keine Hilfe. Ich kann mich sehr gut alleine waschen, und …«
Ihre Einwände fanden kein Gehör. Win und Beatrix gaben sich nicht eher zufrieden, bis sie ihr Bad beaufsichtigt und ihr beim Haarewaschen sowie beim Ankleiden geholfen hatten. Schließlich fanden sie noch die Ersatzbrille, und Catherine war erleichtert, dass ihr Sehvermögen endlich wiederhergestellt war. Win bestand darauf, Catherines Hände mit einer Salbe einzureiben und ihr die Finger zu verbinden.
Schließlich gestattete man ihr, Leos Zimmer zu betreten, während Win und Beatrix unten auf sie warteten. Amelia, Cam und Merripen hatten sich um das Krankenbett versammelt. Leo lag mit entblößtem Oberkörper unter einem Haufen Decken. Es sollte nicht verwundern, dass er mit allen dreien im Streit war.
»Wir schaffen es auch ohne sein Einverständnis«, wandte sich Merripen an Cam. »Ich schütte ihm das Zeug einfach in den Hals, wenn es sein muss.«
»Den Teufel wirst du!«, knurrte Leo. »Ich bring dich um, wenn du es versuchst …«
»Niemand wird dich zwingen, es zu nehmen«, mischte sich Cam ein. »Aber du musst uns schon deine Gründe erklären, phral . So werden wir aus dir nicht schlau.«
»Ich muss überhaupt nichts erklären. Du und Merripen könnt euch das Dreckszeug selber irgendwohin schieben …«
»Was ist denn los?«, erkundigte sich Catherine, die auf der Schwelle stehen geblieben war. »Gibt es ein Problem?«
Amelia kam mit besorgter und verärgerter Miene zu ihr in den Flur. »Ja, das Problem besteht darin, dass mein Bruder ein verdammter Dickkopf ist«, sagte sie so laut, dass Leo es hören musste. Sie wandte sich an Catherine und dämpfte die Stimme. »Cam und Merripen sagen, dass die Wunde nicht so schlimm ist. Sie könnte allerdings richtig gefährlich werden, wenn sie nicht sorgfältig gesäubert wird. Das Holzstück steckte genau zwischen Schlüsselbein und Schultergelenk, und es ist schwer zu sagen, wie tief die Wunde ist. Sie müssen sie ausspülen, um Splitter oder Textilfasern zu entfernen, sonst könnte sie anfangen zu eitern. Mit anderen Worten, es wird eine scheußliche Angelegenheit werden, eine regelrechte Sauerei. Und Leo weigert sich, das Laudanum zu nehmen.«
Catherine starrte sie verblüfft an. »Aber … er muss doch etwas zur Betäubung nehmen.«
»Ja. Aber er will nicht. Er fordert Cam auf, mit der Behandlung der Wunde fortzufahren. Als ob jemand eine derart penible Arbeit machen könnte, wenn der Patient vor Schmerzen brüllt.«
»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht schreien werde«, protestierte Leo mit scharfer Stimme. »Es gibt nur eine Situation, in der ich zu schreien anfange, nämlich wenn Marks ihre Gedichte rezitiert.«
Trotz ihrer Bestürzung musste Catherine lächeln.
Sie spähte durch die Türöffnung und sah Leos schreckliche Gesichtsfarbe. Der sonnengebräunte Teint war einer aschfahlen Blässe gewichen. Er zitterte wie ein nasser Hund. Als sich ihre Blicke trafen, blickte er so aufsässig und erschöpft und elendig drein, dass sie
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