Kuss im Morgenrot: Roman
brauchst mich als Beschützer.«
Sie funkelte ihn zornig an. »Sie sind derjenige, vor dem ich mich schützen muss!«
Man führte sie in ein ordentliches, aber dürftig eingerichtetes Zimmer mit einem Bettgestell aus Messing, das einer Politur bedurfte, und einer ausgewaschenen Steppdecke. Zwei Stühle standen in der Nähe einer winzigen Feuerstelle, ein größerer gepolsterter und ein kleiner, einfacher. In einer Ecke des Raumes befand sich ein zerbeultes Waschgestell, in der anderen ein kleiner Tisch. Der Boden war gefegt und die weißgetünchten Wände leer bis auf ein gerahmtes Stickwerk, ein auf festes, perforiertes Papier gestickter Sinnspruch: »Das Rad der Zeit hält niemand auf.«
Glücklicherweise war der Raum weitgehend geruchlos, nur ein Hauch von gebratenem Fleisch aus der Taverne lag in der Luft sowie ein leichter Aschegeruch, der von dem kalten Herd ausging.
Nachdem Leo die Tür hinter ihnen zugezogen hatte, stellte Catherine die Tasche auf dem Boden ab und öffnete sie.
Dodger steckte seinen Kopf heraus und drehte sich einmal um sich selbst, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Dann sprang er aus der Tasche und huschte unters Bett.
»Du hast Dodger mitgenommen?«, fragte Leo verdutzt.
»Nicht freiwillig.«
»Ah, verstehe. Bist du deshalb aus der Kutsche verbannt worden?«
Catherine betrachtete ihn still. Sie spürte, wie sich ihr zerrissenes Inneres allmählich wieder zusammenfügte und ein warmes, erhebendes Gefühl in ihr aufstieg, als sie ihn Mantel und Halstuch ablegen sah. Alles an der Situation war unanständig, und doch schien Anstand nicht länger von Bedeutung zu sein.
Dann erzählte sie Leo die ganze Geschichte. Wie es plötzlich in der Tasche geraschelt hatte und wie das Frettchen die Beeren vom Hut der Matrone geklaut hatte, und spätestens an der Stelle, wo Dodger sich wie ein Schal um ihren Hals gelegt hatte, konnte sich Leo vor Lachen kaum noch halten. Er war so aufrichtig amüsiert, so außer sich vor kindlicher Freude, dass Catherine sich nicht mehr darum scherte, ob es auf ihre Kosten geschah. Sie lachte sogar mit, oder besser gesagt, sie bekam einen regelrechten Kicheranfall.
Doch irgendwie ging das Kichern in ein Schluchzen über, und sie spürte, wie ihre Augen anschwollen, während sie noch lachte, und sie schlug sich die Hände vors Gesicht, um die schwindelerregenden Gefühle zurückzuhalten. Es war unmöglich. Sie wusste, dass sie wie eine Verrückte aussah, gleichzeitig lachend und weinend. Emotional derart ausgeklinkt zu sein, war ihr schlimmster Albtraum.
»Es tut mir leid«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor und schüttelte den Kopf, während sie sich die Augen mit dem Ärmel bedeckte. »Bitte gehen Sie. Bitte.«
Doch Leo schloss sie in seine Arme. Er nahm sie, ein einziges zitterndes Bündel, an seine Brust und hielt sie fest. Sie spürte, wie er die heiße, entblößte Rundung ihres Ohrs küsste. Der Duft seiner Rasierseife stieg ihr in die Nase, ein vertrauter, tröstlicher maskuliner Duft. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie weiterhin die Worte »es tut mir leid« vor sich hin stammelte, bis er mit tiefer, unendlich zärtlicher Stimme antwortete: »Ja, es sollte dir leidtun … aber nicht, dass du weinst. Sondern dass du mich ohne ein Wort verlassen hast.«
»Ich ha…habe einen Brief hinterlassen«, protestierte sie.
»Die sentimentale Nachricht? Du hast doch gewiss nicht gedacht, dass mich diese rührseligen Zeilen davon abhalten würden, dir nachzufahren. Sch! Still jetzt. Ich bin hier, du bist in Sicherheit, und ich lasse dich nicht mehr gehen. Ich bin hier.« Sie merkte, dass sie versuchte, sich noch näher an ihn zu schmiegen, noch tiefer in seine starken Arme zu kriechen.
Als ihr Schluchzen in einen Schluckauf überging, spürte sie, wie Leo ihr die Jacke ihres Reisekleids von den Schultern streifte. In ihrer Erschöpfung ließ sie ihn gewähren wie ein gehorsames Kind und zog selbst die Arme aus den Ärmeln. Sie protestierte auch nicht, als er ihr die Kämme und Nadeln aus dem Haar zog. Ihre Kopfhaut pulsierte heftig, als er die strenge Frisur löste. Dann nahm Leo ihr die Brille ab, legte sie beiseite und holte ein Taschentuch aus seinem Mantel.
»Danke«, murmelte Catherine und trocknete sich die wunden Augen mit dem quadratischen Baumwolltüchlein, dann putzte sie sich die Nase. Mit kindlicher Unentschlossenheit stand sie da, das Taschentuch zerknüllt in einer Hand.
»Komm her.« Leo setzte sich in den großen Stuhl am Herd und
Weitere Kostenlose Bücher