Kuss im Morgenrot: Roman
wunderschön für sein eigenes Wohl und für ihres. Obwohl sie ihre Brille nicht aufhatte, konnte sie doch jedes atemberaubende Detail von ihm erkennen … die dunklen Poren seines rasierten Schnurrbarts, die Lachfältchen an den Augenwinkeln, kleine strahlenförmige Linien, die sich blass gegen den rosenholzfarbenen Teint absetzten. Und allem voran das nuancenreiche Blau seiner Augen, hell und dunkel, Sonnenlicht und Schatten.
Leo wartete geduldig, hielt sie, als gäbe es nichts auf der Welt, das er lieber getan hätte. »Wie ist es dir gelungen, von dort wegzukommen?«
»Eines Morgens, als alle noch schliefen«, antwortete Catherine, »ging ich zum Schreibtisch meiner Großmutter. Ich suchte nach Geld. Ich wollte fortlaufen und irgendwo eine Unterkunft und eine vernünftige Stelle finden. Es gab keinen einzigen Schilling. Doch in einer Ecke des Tisches entdeckte ich einen Brief, der an mich adressiert war. Ich hatte ihn nie bekommen.«
»Von Rutledge«, vermutete Leo.
Catherine nickte. »Ein Bruder, von dessen Existenz ich nichts wusste. Harry hatte geschrieben, wann immer ich etwas bräuchte, solle ich ihm Nachricht geben. Ich schrieb hastig einen Brief und ließ ihn wissen, in welcher Not ich mich befand. Ich gab ihn William mit der Bitte, ihn schnell zu überbringen …«
»Wer ist William?«
»Ein kleiner Junge, der für meine Großmutter arbeitete … Er trug Dinge treppauf und treppab, putzte Schuhe, machte Besorgungen, was immer man von ihm verlangte. Ich glaube, er war das Kind einer der Prostituierten. Ein süßer kleiner Junge. Er überbrachte Harry den Brief. Ich hoffe, Althea hat es nie herausgefunden. Sonst möchte ich nicht wissen, was ihm widerfuhr.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Am nächsten Tag wurde ich zu Lord Latimer nach Hause gebracht. Doch Harry kam gerade rechtzeitig.« Sie hielt nachdenklich inne. »Er machte mir nur geringfügig weniger Angst als Lord Latimer. Harry war extrem wütend. Damals glaubte ich, sein Zorn richte sich gegen mich, aber heute denke ich, es war die Situation.«
»Schuldgefühle äußern sich oft in Form von Wut.«
»Aber ich habe Harry nie die Schuld für mein Schicksal gegeben. Er war nicht für mich verantwortlich.«
Leos Ausdruck verhärtete sich. »Offenbar hat sich niemand für dich verantwortlich gefühlt.«
Catherine zuckte ratlos mit den Schultern. »Harry wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte. Er fragte mich, wo ich gerne leben würde, da ich ja schlecht bei ihm wohnen konnte, und ich fragte ihn, ob er mich nicht irgendwohin schicken könnte, weit weg von London. Wir einigten uns auf eine Schule in Aber-deen namens Blue Maid’s.«
Leo nickte. »Manche Peers schicken ihre schwierigen oder unehelichen Kinder dorthin.«
»Woher weißt du davon?«
»Ich kenne eine Frau, die im Blue Maid’s zur Schule gegangen ist. Ein strenger Ort, sagte sie. Einfaches Essen und absolute Disziplin.«
»Ich habe es genossen.«
Um seine Lippen zuckte es. »Das ist mir klar.«
»Ich war sechs Jahre dort, die letzten zwei als Lehrkraft.«
»Hat Rutledge dich dort besucht?«
»Nur einmal. Aber wir schrieben uns gelegentlich. Ich kam in den Ferien nicht nach Hause, weil das Hotel kein richtiges Zuhause war und Harry mich ohnehin nicht sehen wollte.« Sie verzog leicht das Gesicht. »Er war nicht sehr nett, bevor er Poppy kennenlernte.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er jetzt netter ist«, sagte Leo. »Aber solange er meine Schwester gut behandelt, habe ich kein Problem mit ihm.«
»Oh, aber Harry liebt sie«, versicherte Catherine ernst. »Das tut er wirklich.«
Leos Ausdruck wurde wieder weich. »Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Ich sehe es. Die Art, wie er mit ihr umgeht, sein Blick und … warum lachst du so?«
»Frauen. Ihr glaubt immer, es sei Liebe. Ihr seht einen Mann mit einem idiotischen Gesichtsausdruck und bildet euch ein, dass er von Amors Pfeil getroffen wurde, obwohl er in Wirklichkeit nur eine verdorbene Steckrübe verdaut.«
Sie starrte ihn entrüstet an. »Machst du dich über mich lustig?«
Leo lachte und schloss die Arme fester um sie, als sie versuchte, von seinem Schoß zu klettern. »Ich mache nur eine Bemerkung über dein Geschlecht.«
»Ich nehme an, du denkst, dass ihr Männer uns Frauen überlegen seid?«
»Nicht im Geringsten. Wir sind nur einfacher gestrickt. Eine Frau ist eine Sammlung vielfältiger Bedürfnisse, wohingegen ein Mann nur ein einziges Bedürfnis hat. Nein, steh nicht auf. Erzähl mir,
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