Kuss im Morgenrot: Roman
Worte. Man konnte Harrys Gehirn regelrecht beim Arbeiten zusehen wie den kleinen Aufziehmechanismen, die er in seiner Freizeit gerne herstellte. Ebenfalls sichtbar war der Moment, als er zu einem richtigen und äußerst unliebsamen Schluss kam.
Harry sprach mit Leo in einem Ton, der Catherine bis ins Mark ging. »Nicht einmal du würdest mit einer verängstigten, verletzlichen Frau, die gerade einen emotionalen Aufruhr erfahren hat, Schindluder treiben.«
»Du hast dich jahrelang einen Dreck um sie geschert«, erwiderte Leo. »Warum willst du gerade jetzt damit anfangen?«
Harry sprang auf, die Fäuste geballt.
»Ach, du liebe Zeit«, murmelte Poppy. »Harry …«
»Hast du ein Zimmer mit ihr geteilt?«, wollte Harry von Leo wissen. »Ein Bett?«
»Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Sehr wohl geht mich das etwas an. Sie ist meine Schwester, und du hättest sie eigentlich beschützen sollen, nicht belästigen!«
»Harry«, mischte sich Catherine ein, »er hat mich nicht …«
»Ich werde mir keinen Vortrag über Moral anhören«, sagte Leo zu Harry. »Erst recht nicht von jemandem, der noch weniger davon versteht als ich.«
»Poppy«, erklärte Harry, und sein Blick heftete sich auf Leo, als wollte er ihn auf der Stelle umbringen. »Cat und du, ihr müsst jetzt mal rausgehen.«
»Warum muss ich den Raum verlassen, wo es doch um mich geht?«, wollte Catherine wissen. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Komm, Catherine«, sagte Poppy leise und ging zur Tür. »Sollen sich die Männer gegenseitig die Köpfe einschlagen, wenn sie es nicht besser wissen. Wir gehen irgendwohin, wo wir vernünftig über deine Zukunft sprechen können.«
Das klang in Catherines Ohren nach einem fabelhaften Plan. Sie folgte Poppy aus dem Zimmer, während Harry und Leo einander weiter anstarrten.
»Ich werde sie heiraten«, sagte Leo.
Harry war wie vom Donner gerührt. »Ihr hasst euch.«
»Wir sind zu einer Einigung gekommen.«
»Hat sie angenommen?«
»Noch nicht. Sie will sich erst mit dir besprechen.«
»Gott sei Dank. Denn ich werde ihr sagen, dass das die absurdeste Idee ist, die ich je gehört habe.«
Leo hob eine Braue. »Du bezweifelst, dass ich sie beschützen kann?«
»Ich bezweifle, dass ihr es vermeiden könnt, euch gegenseitig umzubringen. Ich bezweifle, dass sie in derart unbeständigen Verhältnissen jemals glücklich sein wird. Ich bezweifle … nein, ich werde mir nicht die Mühe machen, alle meine Bedenken aufzulisten, das würde verdammt noch mal zu lange dauern.« Harrys Augen waren eiskalt. »Die Antwort ist Nein, Ramsay. Ich werde alles Nötige tun, um Cat zu beschützen. Du kannst nach Hampshire zurückkehren.«
»Ich fürchte, so einfach wirst du mich nicht los«, erwiderte Leo. »Du hast vielleicht nicht bemerkt, dass ich dich gar nicht um deine Erlaubnis gefragt habe. Es gibt keine andere Wahl. Es sind gewisse Dinge passiert, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Verstehst du, was ich meine?«
Er konnte in Harrys Gesicht sehen, dass nur wenige zerbrechliche Einschränkungen zwischen ihm und seinem sicheren Tod standen.
»Du hast sie absichtlich verführt«, brachte Harry heraus.
»Würde es dich glücklicher machen, wenn ich behauptete, dass es ein Unfall war?«
»Glücklich machen könnte mich im Augenblick nur eins: Dich mit Steinen beschwert in die Themse zu werfen.«
»Ich verstehe dich. Ja, du hast sogar mein tiefstes Mitgefühl. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, einem Mann gegenüberzustehen, der deine Schwester kompromittiert hat, wie schwierig es wäre, ihn nicht auf der Stelle umzubringen. Oh, warte mal …« Leo tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich ans Kinn. »Doch. Ich kann es mir vorstellen. Denn ich habe es gerade erst vor verdammt noch mal zwei Monaten durchgemacht.«
Harrys Augen verengten sich. »Das war nicht das Gleiche. Als ich deine Schwester geheiratet habe, war sie noch Jungfrau.«
Leo warf ihm einen reulosen Blick zu. »Wenn ich eine Frau kompromittiere, dann richtig.«
»Das reicht«, sagte Harry und sprang ihm an die Kehle.
Gemeinsam krachten sie zu Boden, wälzten sich und rangen miteinander. Harry gelang es zwar, Leos Kopf auf den Boden zu schlagen, doch der dicke Teppich fing den Aufprall zum einem großen Teil ab. Harry versuchte, Leo in den Würgegriff zu nehmen, doch Leo zog das Kinn ein und befreite sich mit einem Ruck. Sie rollten sich noch einmal herum und tauschten Schläge aus, die auf Hals, Nieren und Magengrube
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