Kuss im Morgenrot: Roman
setzen uns zusammen und sprechen über vernünftige Alternativen.« Sie blickte zu Catherine. »Du musst ja völlig ausgehungert sein nach so einer langen Reise. Ich werde Tee und Sandwichs kommen lassen.«
»Für mich nicht, danke«, sagte Catherine. »Ich bin nicht …«
»Doch, sie möchte Sandwichs«, schnitt Leo ihr das Wort ab. »Sie hatte nur Brot und Tee zum Frühstück.«
»Ich bin nicht hungrig«, protestierte Catherine. Er erwiderte ihren verärgerten Blick mit einem unerbittlichen.
Dass sich jemand so entschieden um ihr leibliches Wohl kümmerte und obendrein noch genau wusste, was sie gefrühstückt hatte, war für sie eine völlig neue Erfahrung. Sie ließ das Gefühl auf sich wirken und empfand es als sonderbar verlockend, obwohl ihr die Vorstellung immer noch widerstrebte, dass man ihr sagte, was sie zu tun hatte. Ähnliche Wortwechsel hatte sie schon zu tausenden zwischen Cam und Amelia oder Merripen und Win erlebt. Wie sie unnötig viel Wirbel umeinander machten. Wie sie sich um den jeweils anderen sorgten.
Nachdem Poppy bei einem der Dienstmädchen den Nachmittagstee bestellt hatte, kehrte sie in das private Empfangszimmer zurück. Sie setzte sich neben Catherine auf das mit grünem Samt bezogene Sofa und bat: »Erzähl uns, was passiert ist, meine Liebe. War es noch früh am Abend, als Lord Latimer sich dir aufgedrängt hat?«
»Nein, der Ball war schon eine Weile im Gange …«
Catherine berichtete über die Ereignisse des Abends auf eine sachliche Art und Weise, die Hände im Schoß zusammengepresst. »Das Problem ist«, sagte sie, »dass Lord Latimer nicht den Mund halten wird, dass er, ganz gleich, was wir versuchen dagegen zu unternehmen, die Vergangenheit öffentlich machen wird. Ein Skandal zieht herauf, und er ist nicht aufzuhalten. Um die bösen Zungen zu beschwichtigen, wird es das Beste sein, wenn ich wieder verschwinde.«
»Ein neuer Name, eine neue Identität?«, fragte Harry und schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht auf ewig davonlaufen, Cat. Diesmal werden wir uns der Vergangenheit stellen – gemeinsam –, so wie wir es schon vor Jahren hätten tun sollen.« Er fasste sich an den Nasenrücken und ging in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch. »Als Erstes werde ich dich öffentlich als meine Schwester anerkennen.«
Catherine konnte förmlich spüren, wie sie blass wurde. Die Leute würden sich wie die Geier auf sie stürzen, sobald sie erfuhren, dass der mysteriöse Harry Rutledge eine lange verschollene Schwester hatte, neugierig, die ganze Geschichte zu erfahren. Sie wusste jetzt schon, dass sie nicht in der Lage wäre, all die Fragen und prüfenden Blicke zu ertragen.
»Die Leute würden mich als die Gesellschafterin der Hathaways erkennen«, gab sie mit erstickter Stimme zu bedenken. »Sie würden sich fragen, warum die Schwester eines wohlhabenden Hoteliers eine solche Stellung hatte annehmen müssen.«
»Sollen sie doch denken, was sie wollen«, entgegnete Harry.
»Es würde kein gutes Licht auf dich werfen.«
»Bei den Verbindungen, die dein Bruder hat, Marks, ist er an wenig schmeichelhafte Gerüchte gewöhnt«, konterte Leo.
Die vertraute Art, wie Leo mit seiner Schwester sprach, ließ Harry aufhorchen. »Ich finde es höchst interessant«, sagte er zu ihr, »dass du ausgerechnet in Begleitung von Ramsay nach London kommst. Wann hat sich entschieden, dass ihr gemeinsam reisen werdet? Und um welche Uhrzeit seid ihr gestern Abend abgereist, dass ihr schon mittags in London wart?«
Alle Farbe, die zuvor aus Catherines Gesicht gewichen war, kehrte auf einmal im Überfluss zurück. »Ich … er …« Sie blickte zu Leo, der ein unschuldiges, aber interessiertes Gesicht aufgesetzt hatte, so als wollte er selbst ihre Erläuterungen hören. »Ich bin gestern Morgen alleine abgereist«, brachte sie hervor und riss ihren Blick von Leo los. Zögernd wandte sie sich wieder zu Harry um.
Harry beugte sich vor, und auf seinem Gesicht zog eine finstere Miene auf. »Gestern Morgen ? Wo hast du die Nacht verbracht?«
Sie reckte das Kinn und versuchte sachlich zu klingen. »In einer Poststationsherberge.«
»Hast du eine Vorstellung, wie gefährlich diese Herbergen für eine allein reisende Frau sind? Hast du denn völlig den Verstand verloren? Wenn ich nur daran denke, was dir alles hätte passieren können …«
»Sie war nicht allein«, warf Leo ein.
Harry starrte ihn ungläubig an.
Es war einer dieser Momente, in dem ein Schweigen mehr sagte als tausend
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