Kuss mich kuss mich nicht
heran. Die Farbschicht war ein bisschen dicker, das Rissmuster war dichter, und die Pinselführung wich ein wenig von der Pinselführung auf dem übrigen Gemälde ab. Sie sagte sich, sie bildete sich diese Unterschiede ganz bestimmt nur ein, doch eine neuerliche Inspektion bestätigte ihren Verdacht, dass etwas mit der Farbschicht auf dem gläsernen Teil des Spiegels nicht in Ordnung war.
Callie richtete sich auf, blickte ohne Mikroskop auf das Porträt und sagte sich, sie sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Denn der Unterschied war beinahe nicht zu sehen und ließ sich wahrscheinlich bereits durch die Farbe selbst erklären. Weil der Spiegel eine der wenigen hellen Partien neben Nathaniels Gesicht und Händen war. Vielleicht hatte Copley für die helleren Töne ja ganz einfach eine andere Ölfarbe benutzt.
Sie beugte sich wieder über das Bild und sah sich die Stirn, die Wangen und das Kinn des Mannes an. Die Risse dort stimmten eindeutig mit den Rissen auf dem übrigen Gemälde überein, und dadurch wurde ihr Verdacht, dass mit dem Spiegel irgendwas nicht stimmte, noch verstärkt.
Abermals zog sie das Mikroskop über den Spiegel und sah ihn sich gründlich an.
Die Veränderung war so unmerklich, dass sie entweder bereits vor langer Zeit oder von einem Experten vorgenommen worden war. Und der Lack an dieser Stelle des Porträts stimmte mit dem Lack auf den übrigen Partien überein. Sie hatte gerade in einem Buch über Copleys Werk gelesen, dass das Walker-Porträt zum letzten Mal vor circa fünfundsiebzig Jahren konserviert und mit frischem Lack versehen worden war. Die Veränderung, die sie entdeckt hatte, musste also noch älter sein.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, starrte vor sich hin und fragte sich, weshalb diese Unstimmigkeit nicht während der letzten Konservierung aufgefallen war. In dem Buch waren Details über den damaligen Zustand des Porträts genannt worden, doch nirgendwo hatte der Autor irgendeine Diskrepanz in der Oberflächenstruktur erwähnt.
Gerard Beauvais hingegen hatte bei der Begutachtung des Bildes irgendwas gesehen.
Er hatte erzählt, die Blankenbakers hätten das Porträt über einen Kamin gehängt. Vielleicht hatten die Temperaturschwankungen, denen es dort ausgesetzt gewesen war, ja die Retouchierung erst enthüllt. Das wäre eine Erklärung dafür, dass sie den Restauratoren vor fünfundsiebzig Jahren nicht aufgefallen war.
Vielleicht hatte ja einfach Copley selbst die Stelle übermalt. Das taten Maler, sogar große Meister, schließlich oft. Wenn ihnen eine Form oder eine Farbe nicht gefiel, wurde sie einfach übertüncht. Und im Verlauf der Zeit, wenn die Farbschicht alterte, wurden diese Veränderungen sichtbar und tauchten als Schatten vor hellem Hintergrund oder als Veränderungen in der Rissstruktur wie auf der Spiegeloberfläche wieder auf.
Vielleicht gab es ja wirklich eine ganz einfache Erklärung, dachte sie und erinnerte sich daran, was Professor Melzer ihnen eingetrichtert hatte: nämlich, dass man nicht sofort an Zebras denken sollte, wenn man irgendwo Hufspuren sah.
Was ein durchaus kluger Ratschlag war. Trotzdem wollte sie verdammt sein, wenn sie nicht skeptisch war.
Sie brachte den gesamten Tag mit der Begutachtung des Bildes zu, ging jeden Quadratzentimeter des Gemäldes durch, suchte nach Stellen, an denen die Farbe flockte oder blätterte, verfärbt oder verblichen war oder sich die Pinselführung änderte, und schrieb sich alles so genau und objektiv wie möglich auf.
Schließlich richtete sie sich, obwohl ihr Rücken von der über das Porträt gebeugten Haltung schmerzte, durch und durch zufrieden auf. Das Gemälde war in einem guten Zustand, und die Überprüfung hatte ihr gezeigt, dass keine aufwendige Restaurierung nötig war. Eine Entfernung des alten Lacks mit anschließender Säuberung und ein Auftrag einer neuen Lackschicht, um die Oberfläche des Gemäldes dauerhaft zu schützen – mehr bräuchte Nathaniel nicht.
Jetzt fühlte sie sich eher in der Lage, diese Arbeit zu bewältigen, und wenn die Dokumentation in ein, zwei Tagen abgeschlossen wäre, finge der Spaß erst richtig an.
Und ihre Vermutung hinsichtlich des Spiegels behielte sie am besten erst einmal für sich. Schließlich war die Chance groß, dass ihr ein Riesenfehler unterlaufen war. Und um einem Menschen zu erklären, dass das Bild, für das er fünf Millionen Dollar ausgegeben hatte, möglicherweise einen Makel hatte, brauchte man auf alle Fälle mehr als einen
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