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Kyberiade. Fabeln zum kybernetischen Zeitalter.

Kyberiade. Fabeln zum kybernetischen Zeitalter.

Titel: Kyberiade. Fabeln zum kybernetischen Zeitalter. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Daniel E. Mroz
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aufhörten. Wieder und wieder setzten sie zum Sturm auf den Stall an, wurden jedoch zum Rückzug in höchstem Tempo gezwungen, überwältigt von schmerzhaften Krämpfen. Bestürzt über die unerwartete Entwicklung der Ereignisse kam ich zu der Erkenntnis, das Experiment ließe sich nur in der Stadt durchführen, wo es keine Tiere gibt. Also packte ich rasch meine Sachen und ging hinunter, um die Rechnung zu begleichen. Da aber jedermann in Haus und Hof vollauf damit beschäftigt war, das Kalb zur Welt zu bringen, konnte ich meine löbliche Absicht nicht verwirklichen. Ich steuerte auf die Kalesche zu, als ich aber erkennen mußte, daß der Kutscher mitsamt seinen Pferden hoffnungslos in den Wehen lag, entschloß ich mich, den Weg zur nahegelegenen Stadt zu Fuß zurückzulegen. Wie es das Unglück jedoch wollte, ging ich gerade über eine schmale Brücke, als mir der Koffer aus der Hand rutschte, aufsprang und seinen ganzen Inhalt in den Fluß unter mir ergoß. Völlig verwirrt stand ich da und mußte mitansehen, wie die reißende Strömung die ganzen vierzig Kilogramm Altruizin mit sich forttrug. Jetzt war nichts mehr zu machen, die Würfel waren gefallen, denn eben dieser Fluß versorgte die gesamte stromabwärts gelegene Stadt mit Trinkwasser.
    Es war Abend geworden, bis ich die Stadt erreichte; die hell erleuchteten Straßen waren voller Lärm und Menschen. Ich stieg in einem kleinen Hotel ab und wartete voller Spannung auf die ersten Anzeichen der Wirkung des Präparats; zunächst waren jedoch keine zu entdecken. Müde nach dem langen Fußmarsch schlief ich bald ein, wurde jedoch gegen Mitternacht durch markerschütternde Schreie geweckt. Ich sprang mit einem Satz aus dem Bett. Mein Zimmer war taghell, dank der lodernden Flammen, die das gegenüberliegende Gebäude verschlangen; als ich auf die Straße hinauslief, stolperte ich gleich am Hauseingang über einen Leichnam, der noch nicht erkaltet war. Nicht weit von mir hielten sechs Strolche einen gellend um Hilfe schreienden Greis fest und rissen ihm mit einer Zange einen Zahn nach dem anderen aus dem Mund, bis ein vielstimmiges Triumphgeheul kundtat, daß sie endlich den richtigen gefunden und gezogen hatten, dessen verfaulte Wurzel aufgrund der metapsychotropen Transmission die Ursache ihrer wahnsinnigen Schmerzen gewesen war. Sie ließen den alten Mann halbtot in der Gosse liegen und zogen – sichtlich erleichtert – weiter.
    Es war aber nicht der Schrei dieses Unglücklichen, der mich aus meinem Schlummer gerissen hatte; der Grund lag vielmehr in einem Vorfall, der sich in der Kneipe gegenüber zugetragen hatte. Ein betrunkener Kraftprotz hatte seinem Tischnachbarn ins Gesicht geschlagen und spürte nun dessen Schmerz am eigenen Leibe; darüber geriet er so in Wut, daß er sein Gegenüber erst recht verdreschen wollte. Die übrigen Zecher indes, die ja nicht weniger in Mitleidenschaft gezogen waren, sprangen auf und stürzten sich auf die beiden Kampfhähne, und bald nahm der Teufelskreis der wechselseitigen Schmerzen und Schläge solche Dimensionen an, daß die Hälfte aller Gäste in meinem Hotel aus dem Schlaf gerissen wurde; sie bewaffneten sich hurtig mit Stöcken, Knüppeln und Besenstielen und wälzten sich bald als ein einziges wogendes Knäuel zwischen zerbrochenen Gläsern und zertrümmerten Stühlen, bis eine umgestürzte Petroleumlampe alles in Brand setzte. Unter dem Schrillen der Alarmglocken, dem Heulen der Sirenen und der Verwundeten dieses Kampfes suchte ich so schnell wie möglich das Weite. Ein paar Straßen weiter stieß ich auf eine Menschenmenge, die sich um ein weißes Häuschen umgeben von Rosensträuchern drängte. Wie ich herausfand, verbrachte ein junges Brautpaar hier seine Hochzeitsnacht. Es herrschte ein unerhörtes Gedränge, man sah Uniformen, geistliche Gewänder und sogar Schülermützen; die dem Haus am nächsten waren, steckten ihre Köpfe durch die Fenster, andere kletterten ihnen auf die Schultern und schrien: ›Na, was ist jetzt? Wozu die Trödelei?! Wie lange müssen wir noch warten?! Zur Sache, und nicht gefackelt!‹ usw. Ein alter Mann, schon zu schwach, um sich durch die Menge nach vorn zu drängeln, flehte die Umstehenden unter Tränen an, sie möchten ihn doch durchlassen, denn aus der Ferne konnte er wegen seiner nicht mehr ganz intakten grauen Zellen nichts spüren; seine demütigen Bitten wurden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen – einige aus der Menge fielen durch ein Übermaß an Wonne sanft in

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