L wie Liquidator
der Historiker etwas zerstreut, »Er ist nicht unter ihnen. Ich habe alles gründlich beobachtet, es sind alle Genuesen. – Ach so! Nun ja, als das Durcheinander in Europa seinen Gipfel erreicht hatte, proklamierte Papst Urban II. eine heilige Kreuzwallfahrt. Mit geschmeidigen psychologischen Mitteln – er ist ein begnadeter Demagoge und beherrscht die Propagandakunst ausgezeichnet, das muß man ihm lassen – also er entflammte alle diese nutzlosen Krieger und jagte sie buchstäblich aus Europa hinaus. Im Jahre 1096 Ortszeit setzten sie sich in Bewegung, zerschlugen bei Dorylaon das erste sarazenische Heer, eroberten Nicäa, bemächtigen sich Antiochias und jetzt, nach vier Jahren, sind sie am Ziel ihrer bewaffneten Prozession, vor ihrer heiligen Stadt. Ein Zehntel von denen, die aus Europa aufbrachen, um das Gottesgrab zu befreien, stehen da, die anderen blieben auf der Strecke.«
Der Techniker wechselte die Einstellung des Bildschirms, beobachtete die Mühe der Abendländer, aus dem ausgepichten Holz die Belagerungsungeheuer zusammenzubauen, und seufzte schwer:
»Wie lange noch?«
»Techniker sollten eben nicht heiraten«, witzelte der Historiker, »denn dies bedeutet weitere zwei Monate. Aber das dürfte der äußerste Termin sein. In zwei Monaten ist das Entsatzheer aus Ägypten da, und die Abendländer geraten in die Zange. Doch ist es gut möglich, daß wir früher abfliegen. Vielleicht erscheint Er hier, wir retten Ihn, und entfernen uns noch vor der vollkommenen Niederlage der Abendländer. Wer hat eigentlich Nachtdienst?«
»Sie«, sagte der Techniker gähnend, und schob mit kräftigem Schwung das Bildschirmpult zum Sessel des Historikers hinüber.
Fünf genuesische Segelschiffe verwandelten sich in zwei kolossale bewegliche Türme. Wirklich hatten die Franken viel gelernt. Noch bei Nicäa bauten ihnen die Angriffstürme die Byzantiner, aber die lateinischen Handwerker sahen ihnen fleißig auf die Finger. Die abendländischen Feldscher nahmen es mit griechischen Medicis auf. Spinnennetze und gekochte Frösche verschwanden aus ihren Arzneien, sie mußten neuen Medikamenten weichen. Überhaupt ist die Welt der europäischen Lateiner sehr viel anders geworden, sie verbreiterte und vergrößerte sich. In der Zeit der Heiligen Expedition sahen und erlebten sie mehr, als ihre Ahnen in Hunderten von Jahren.
Es kam der Juli mit seiner furchtbaren Hitze. Sie schmorten in ihren Metallrüstungen, litten unerträglich unter Schwüle und Durst, aber sie gaben nicht auf. Zweimal brachten sie die Türme bis zur Mauer, aber der Graben war zu tief, die Fallbrücken kamen nicht bis an die Zinne. Dazu erhöhten die Sarazener die Mauer noch mit Wollsäcken, die die Pfeile der Angreifer auffingen. An die Türme meldeten sich nur die Besten und Vornehmsten. Jeder von ihnen gab sich die Ehre, bei der Heiligen Stadt an der gefährlichsten Stelle zu kämpfen.
»Die Genuesen sind gar nicht so dumm«, sagte der Historiker mit bitterem Lächeln, »sie schenkten den Kreuzfahrern fünf ihrer Schiffe, aber das sechste Schiff behielten sie für alle Fälle … Nur Er«, fuhr er gähnend fort, »ist nicht hier. In der Nacht kamen nur einige Matrosen. Sie sollen sicher ihren Kapitänen mitteilen, wie es mit der Belagerung aussieht, damit sie sich rechtzeitig auf die Flucht vorbereiten können. Also wird Er oder die Niederlage in einem Monat da sein.«
»Schade, daß ich nicht wissen darf, weshalb wir ihn zu retten haben«, meinte der Techniker.
Dem Historiker blieb über dieser Frechheit das Wort im Hals stecken. Aber dann erinnerte er sich an die verdorbenen Flitterwochen, die aufreibenden Tage über dieser Stadt, sehr viel opferwillige Hilfe, und fügte nur hinzu: »Ja, es ist schade, aber Dienst ist Dienst.«
Er schaute aus dem Fenster und versuchte die Schroffheit seiner Worte zu mildern, als er sagte:
»Die Morgenländer werden sehr bald siegen und Europa erholt sich von dieser Niederlage nie. Ihre besten Krieger fielen bei dieser unsinnigen Expedition, die die Sarazenen nicht nur nicht vernichtete, sondern stärkte. Ihre Anfangserfolge schweißten den Islam wieder zusammen, der sich zu dieser Zeit schon weitgehend zersplittert hatte. Aber so begeben sich nach zweihundert Jahren die Muslimen auf den Marsch und unterjochen sich ganz Europa. Die spanischen Araber haben schon heute Pläne für dreistufige Pulverraketen. Das kontemplative Denken der Morgenländer ist zwar etwas langsam, aber sicher. Sie sind auf einem
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