Labyrinth 02 - Das Labyrinth jagt dich
Zahlen an.
Eine Tür erschien.
»Wir können gehen.«
In dem Moment, als sie den Raum verlassen wollten, erklang ein Ton, der León nun schon allzu gut bekannt war. Die Wände begannen, in rotem Licht zu leuchten.
León wollte gerade ansetzen, Mischa zu erklären, was vor sich ging, doch da sprang der mit einem Satz nach hinten und prallte gegen León. Mischas Gesicht war eine starre Maske, mit weit aufgerissenen Augen begann er zu hecheln und zu keuchen.
»Was ist los, Mischa?«, fragte León beunruhigt.
»Sie kommen! … Sie wollen mich töten …«
»Mischa. Da ist niemand. Die Wände verschwinden und vorher gibt es dieses Signal, das ist alles. Es besteht keine Gefahr.«
»Ich sehe sie!«, brüllte Mischa.
León wirbelte herum. Da war niemand. Die Wände versanken langsam und geräuschlos im Boden. Mischa konnte gar nichts sehen. Denn da war nur die bekannte weite Leere.
»Da ist nichts!«
»Sie wollen meinen Vater … er ist im Auto … der Chauffeur sagt mir, ich soll mich auf den Boden legen …«
León sprang vor, packte Mischa an den Schultern und schüttelte ihn. »Mischa, compañero. Ich schwöre, da ist niemand. Wir sind allein. Das Signal bedeutet keine Gefahr.«
Aber Mischa hörte ihn nicht, sondern starrte über Leóns Schulter hinweg auf die nackte Ebene, die sich nun vor ihnen auftat.
»… ich … sie kommen auf mich zu. Männer mit schwarzen Masken. Sie haben Maschinenpistolen … ich sehe die Kugel in die Windschutzscheibe einschlagen … sie treffen mich nicht … aber der Lärm. Alle schreien oder brüllen … zwei Leibwächter draußen, sie werden sofort erschossen … Stille … ein einzelner Mann kommt auf das Fahrzeug zu. In seiner Hand hält er etwas … Er nimmt die Maske ab … Er grinst mich an und ich weiß, dass ich jetzt sterbe. Dann eine Explosion … alles wird rot …«
Plötzlich sackte Mischa in sich zusammen. Es ging so schnell, dass León keine Gelegenheit hatte, seinen Fall zu bremsen. Hart knallte Mischa mit dem Hinterkopf auf den Boden.
Mierda! Scheiße, verfluchte!
León kniete sich neben den Bewusstlosen. Mischas Augen waren offen, reagierten jedoch nicht. León legte seine Finger auf die Halsschlagader, fand in der Aufregung den Puls nicht. Er beugte sich zu Mischas Lippen herunter und lauschte, ob er noch atmete.
Das tat er, schwach zwar, aber Mischa war noch am Leben. Er richtete sich auf und noch ein Fluch verließ Leóns Lippen, aber es war niemand da, der seine Verzweiflung hören konnte. Der einzige Mensch, der in der Lage war, die rätselhaften Türen zu öffnen, lag bewusstlos am Boden.
Er musste einen anderen Weg hinaus finden. León redete sich ein, dass er sich würde beruhigen müssen, um einen klaren Gedanken zu fassen, da spürte er etwas Warmes an seiner Hand, mit der er sich neben Mischa abstütze. Er sah auf seine Hand, sie war rot vor Blut.
Erschrocken sah er, wie sich das Blut um Mischas Kopf herum ausbreitete. Dunkel floss es hervor und bildete einen kleinen roten See auf dem makellosen weißen Boden.
Die Rufe ihres Bruders, die sie die ganze Zeit geführt hatten, waren verstummt. Ratlos stand Mary vor einer weiteren Abzweigung des Ganges. Was sollte sie jetzt tun? In welche Richtung gehen? Links oder rechts?
Sie lauschte angestrengt. Nichts, kein Ton zu hören.
»David?«, rief sie. Dann noch einmal. »David?«
Mary legte ihre rechte Hand hinter das Ohr. Sie bemühte sich, leise und flach zu atmen.
»Wo bist du? Sag etwas!«
Kein Ton. Zum ersten Mal nahm sie ihre Umgebung richtig wahr. Wie in einem Traum war sie auf der Suche nach ihrem Bruder durch die Gänge gestolpert, aber nun drehte sie sich verblüfft in beide Richtungen.
Das muss die neue Welt sein. León hat mich in der Eisstadt gerettet, dann sind wir durch die Tore und … wo bin ich hier?
Sie befühlte die hellen Wände und den Boden. Alles war so ganz anders als die letzte Welt, die nur aus Ruinen, Schutt und Asche bestanden hatte.
Wo sind die anderen? Wo ist León?
Der Gedanke an den tätowierten Jungen versetzte ihr einen Stich. Natürlich vermisste sie auch die anderen, aber ihre Gedanken waren bei León.
Warum tut es weh, an ihn zu denken? Ich kann ihn doch gar nicht leiden.
Sie dachte an sein breites Grinsen, seine lebendigen braunen Augen, an die Momente, in denen er ihr nahe gewesen war. Sein Kuss, in der Morgendämmerung auf einer schneebedeckten Straße. Ganz unvermittelt. Sein Kuss sollte sie zornig machen, sie anspornen. Und es hatte funktioniert.
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