Labyrinth der Spiegel
fertig?«
»Ljonja, wenn ein dicker Onkel das rote Album bestellt, ein Mädchen in den Keller führt, ›Ich bin ein Vampir!‹ kreischt und ihr dann in den Hals beißt, ist das ekelhaft und widerwärtig, aber verständlich. Der ist einfach krank. Wenn aber ein völlig unscheinbarer junger Mann vor so einem Mädchen sitzt und anfängt, vom Leder zu ziehen … wenn er Geld dafür ausgibt, um ihr ein oder zwei Stunden lang zu beweisen, dass sie ein Miststück ist, ein dreckiges Tier, das es nicht verdient, auf dieser Erde zu leben, dann ist das viel schlimmer, glaub mir.«
»Warum?«, mischt sich der Loser überraschend ins Gespräch.
»Weil es ein Fluch ist. Das Recht zu urteilen und das Recht zu herrschen. Das Recht auf Wahrheit. Mit einem Idioten oder einem Tier kommst du leicht klar. Ganz im Gegensatz zu jemandem, der sich für einen Übermenschen hält, für klug, rein und makellos. Zum Beispiel ein General, der für Frieden kämpft, ein Herrscher, der gegen Korruption vorgeht, ein Perverser, der Pornografie verurteilt. Wir alle kennen solche Leute. Vielleicht hängt ja ein Fluch über den Menschen? Und du musst mit Chaos rechnen, wenn sie versprechen, Ordnung zu schaffen. Mit
dem Tod, wenn sie das Leben verteidigen. Und mit der Verwandlung eines Menschen in ein Tier, wenn sie die Moral hochhalten. Jemand braucht bloß zu sagen: Ich bin höher, ich bin reiner, ich bin besser – und du darfst getrost das Schlimmste annehmen. Nur diejenigen, die keine Wunder versprechen und sich nicht auf ein Podest stellen, bringen der Welt wirklich etwas Gutes.«
Ich spüre, dass die beiden völlig ernst bei der Sache sind.
»Stopp!«, rufe ich. »Vika, verzichten wir auf jede Diskussion über das Gute und das Böse! Sonst erklären wir am Ende noch Mörder und Diebe zu Heiligen!«
»Du bist selbst ein Dieb«, gibt Vika zurück.
»Ich sorge lediglich dafür, dass sich Informationen verbreiten.«
»Und ein Taschendieb sorgt nur dafür, dass die Menschen besser aufpassen. Die Frage ist, ob die Mutter einer ganzen Schar Kinder diese Lektion wirklich braucht? Und ob man sie ihr erteilen muss, indem man ihr das Portemonnaie mit ihrem ganzen Geld klaut.«
Dagegen ließe sich eine Million Argumente vorbringen. Ich könnte klarstellen, dass meine Arbeit nicht in erster Linie darin besteht, Daten zu klauen. Ein Hacker, der nicht in den virtuellen Raum eintritt, gäbe da einen viel besseren Dieb ab. Davon abgesehen besteht ein Unterschied zwischen dem Diebstahl und dem Kopieren von Dateien. Ich hinterlasse ja keinen leeren Rechner zurück. Und welche Rolle spielt es für die Menschheit schon, wer als Erster ein neues Shampoo oder ein Mittel gegen Erkältung auf den Markt wirft?
Aber ich will mich nicht mit Vika streiten.
»Tut mir leid.« Sie berührt meine Hand. »Das hätte ich mir sparen können.«
»Schon gut. Ich habe nur bekommen, was ich verdient habe.«
»Aber es tut mir wirklich leid.« Dann wendet sie sich an den Loser. »Weißt du, wir befinden uns in einer rein digitalen Welt. In einer Welt, in der alles gestattet ist. Du kannst in ihr kämpfen, huren und randalieren. Die Gesetze sind nicht auf diese Welt vorbereitet, aber – und das ist noch wichtiger – auch die menschliche Psyche ist nicht auf diese Welt vorbereitet. In der Tiefe gibt es praktisch keine Sanktionen, selbst wenn du aus dem Netz exkommuniziert wirst, hindert dich niemand daran, es unter einem anderen Namen wieder zu betreten. Möglicherweise kriegst du Schwierigkeiten, wenn du Daten klaust, aber die Rechtslage ist auch hier erbärmlich. Versuch einmal, zwölf Geschworene davon zu überzeugen, dass ausgerechnet Mister John Smith das neue Spiel vom Server von Microprosa geklaut hat, es an Wanja Petrow weitergegeben hat und dieser es mit Hilfe von Wang Ho als Raubkopie zum Verkauf angeboten hat. Es ist eine Welt der unbeweisbaren Verbrechen und der unechten Tode. Nur der Schmerz in der Seele bleibt echt. Aber wer kann schon den Schmerz messen, der durch die Kabel kriecht und dir das Herz zermalmt? Uns ist nichts geblieben außer der Moral. Einzig und allein die komische, althergebrachte Moral. Und offenbar ist es wesentlich bequemer, ein Mistkerl oder ein Heiliger zu sein als ein Mensch. Einfach ein richtiger Mensch.«
»Und was ist das – ein Mensch?«, fragt der Loser. »Ein richtiger Mensch?«
»Ich würde es dir erklären«, antworte ich. »Wenn ich Gott wäre. Hören wir auf damit, ja?«
»Aber das interessiert mich.« Der Loser
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