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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukianenko Sergej
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gewesen«, hält er fest.
    Ich spucke in die graue Nebelmaske. Es ist eine rein symbolische Geste, denn die Möglichkeit, einen virtuellen Körper anzuspucken, ist nicht vorgesehen. Vielleicht sollte ich den Computermagier mal auf das Problem ansetzen …
    Dibenko fährt sich ungerührt mit der Hand über sein fehlendes Gesicht, fast als wische er den Speichel ab. Dabei schöpft er eine Handvoll Nebel und presst ihn wie dreckigen, städtischen Schnee zusammen.
    »Fang, Diver!«, ruft er. »Und träum was Schönes!«
    Der Schneeball fliegt auf mein Gesicht zu und verwandelt sich unterdessen in ein überdimensionales Tuch. Er ist auch nicht mehr grau, sondern bunt, funkelnd, spiegelnd, prachtvoll und ornamentiert.

    Zu spät begreife ich, woran mich diese Farbenpracht erinnert.
    Tiefe, Tiefe …
    Viel zu spät.
    Das Deep-Programm hat sich über mich gestülpt, selbst ich entkomme ihm jetzt nicht mehr.
    Tiefe, Tiefe …
    Nichts.
    Das Tuch funkelt immer noch, macht nicht die geringsten Anstalten zu erlöschen, wie es sich doch für das ehrliche, folgsame Deep-Programm gehören würde.
    Tiefe, Tiefe …
    Ich sinke immer tiefer, tauche in den farbenfrohen Abgrund, in die unendliche Kette falscher Spiegelbilder, in das bunte Labyrinth, in Wahnsinn und Ohnmacht ein.
    Auf meiner Kiste habe ich keinen Timer installiert. Und niemand hat für mein Zuhause einen Schlüssel.
    Tiefe, Tiefe …
    Der bunte Farbstrudel schluckt mich, ich kann nicht mehr auftauchen.
    Tiefe, Tiefe …

111
    Jetzt heißt es: Ruhe bewahren!
    Angeblich ist das auch das Motto eines unserer Kosmonauten. Nur wer erinnert sich heute noch an die Helden von gestern?
    Ruhe bewahren.
    Panik bringt dich schneller um als eine Kugel.
    Ich schwebe durch ein endloses Kaleidoskop. Durch einen Regenbogen, ein Feuerwerk, das laufende Deep-Programm. Wie einfach das ist. Und wie überraschend. Ein Diver kann auftauchen. Nur was tut er, wenn das Wasser schneller auf ihn einstürzt, als er sich nach oben strampeln kann?
    Noch weiß ich es nicht.
    Ich versuche einen Schritt zu machen, und das gelingt sogar. Die Welt hat ihre Realität eingebüßt, sie ist zum abstrakten Bild eines wahnsinnigen Malers geworden. An mir schießt ein sich drehendes, orangefarbenes Band vorbei, rollt sich zu einem Ring ein und legt sich auf meinen Kopf. Als ich es runterreiße, sehe ich meine Hände nicht, doch immerhin fliegt das Band beleidigt davon. Unter meinen Füßen, die ebenfalls nicht vorhanden sind, pulsieren
Fontänen aus weißem Staub. Ein smaragdgrüner Regen setzt ein, jeder Tropfen ist ein winziger Kristall, der mich schmerzhaft piekst.
    Und dann ist da noch die Stille, diese tote Stille, die beinahe der gleicht, von der der Loser gesprochen hat.
    Ruhe bewahren.
    Wo bin ich jetzt? Stolpere ich über eine Straße Deeptowns, die Hände vorgestreckt und blind ins Nichts blickend? Oder bin ich auf Dibenkos Rechner gelandet? Womöglich breite ich mich ja auch wie eine mythische Gestalt über das ganze Netz aus?
    Ruhe bewahren.
    Entscheidend ist doch: Ich bin zu Hause. An meiner alten Kiste. Mit meinem VR-Helm auf dem Kopf und im Sensoranzug. Vor mir liegt die Tastatur, etwas rechts davon die Maus. Wenn ich die Tastatur ertasten könnte, könnte ich den Befehl zum Verlassen eingeben …
    Mhm, das klappt nicht. Und zwar nicht, weil ich die Tasten unter meinen Fingern nicht spüre, schließlich ist mein Bewusstsein seit Ewigkeiten daran gewöhnt, Bewegungen zu imitieren . Ich brauche die Hand nicht auszustrecken, sondern nur kurz zu zittern, ich brauche nicht zu springen, sondern mich nur leicht vom Stuhl zu erheben, nicht zu gehen, sondern nur unterm Tisch ein Bein vors andere zu stellen. Illusionen reichen. Das ist die Tiefe .
    »Vika!«, rufe ich. »Vika! Austritt aus dem virtuellen Raum! Vika, ich will auftauchen! Vika!«
    Null Wirkung.
    Die Möglichkeit, mit Windows Home selbst aus der Tiefe heraus zu kommunizieren, ist für mich immer eine
Selbstverständlichkeit gewesen. Ich habe sie hingenommen, habe Dateien übertragen, die Tiefe verlassen und mich für die freien Ressourcen meines Rechners interessiert. Wenn das alles so einfach wäre – was wäre dann das Besondere an Divern? Die Frage erübrigt sich jetzt, wo ich nur noch ein normaler User bin.
    Ich spüre die reale Welt nicht mehr.
    Ich kann niemand um Hilfe rufen.
    Ich ertrinke.
    Ruhe bewahren!
    Ich versuche, den Helm abzunehmen, den ich nicht spüre. Vergeblich. Ich renne und zappel, in der Hoffnung, das Kabel

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