Labyrinth der Spiegel
herauszuziehen.
Wahrscheinlich rühre ich mich höchstens einen Meter vom Fleck, wenn überhaupt.
Ich schließe die Augen. Ich muss mich vom Deep-Programm abkoppeln. Ich darf es nicht sehen. Ich darf nicht noch tiefer tauchen.
Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein. Tiefe, Tiefe, gib mich frei …
Unablässig wiederhole ich diesen Spruch, wie ein schlechter Schüler in der Diver-Schule, der hundertmal ein und denselben Satz in sein Heft schreiben muss.
Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein. Tiefe, Tiefe, gib mich frei …
Null Veränderung.
Dort, in der unendlich fernen echten Welt, sitzt mein starrer Körper vorm Rechner, spiegeln sich in seinen offenen Augen die tödlichen Regenbögen.
Dibenko hat mich erwischt.
Ob er zufällig auf diese Falle gestoßen ist? Vielleicht, als er lernen wollte aufzutauchen? Oder hat er einen Rettungsring
erfinden wollen – und dabei ist dieses Zementfass für die Füße herausgekommen? Oder wollte er am Ende genau das: Nicht aus allen Usern Diver, sondern aus uns Divern normale User machen?
Vielleicht werde ich es nie erfahren.
Was ist mit Romka passiert? Hat Vika sich noch ins Auto retten können? Oder stolpert sie jetzt auch durch diesen vielfarbigen Sturm? Und geht der Loser brav und schweigend mit Dibenko davon?
Um eine Antwort auf all diese Fragen zu erhalten, müsste ich zurückkehren.
Die Welt um mich herum beruhigt sich ein wenig. Entweder wirbeln die Farben jetzt nicht mehr wild durcheinander oder ich habe mich an dieses Gestöber gewöhnt. Nehmen wir zur Orientierung mal an, dass der smaragdgrüne Regen von oben kommt. Versuchen wir zu gehen. Ganz langsam und ruhig. Wenigstens bis zu diesem orangefarbenen Band, das sich schon wieder stur vor mir dreht …
Gerade lässt es mich dicht an sich heran, dann fliegt es davon. Ich registriere nur noch, wie der smaragdgrüne Regen auf das Band einpeitscht und die Ränder ruiniert. Es ist zu einem Möbius-Knoten verschlungen, als ob … als ob es völlig unabhängig vom Raum sei, der es umgibt!
Das ist irgendwie viel zu anspruchsvoll fürs Deep-Programm …
Erneut bewege ich mich auf das Band zu, erneut kriege ich es nicht zu fassen, es wird davongetragen.
Was geht hier eigentlich vor sich? Existiert diese wahnsinnige Welt wirklich? Oder erlaubt sich mein Unterbewusstsein bloß einen Scherz?
Ich folge dem Band. Jede Richtung kann stimmen, falls es hier überhaupt Richtungen gibt. Der Regen nimmt zu, die kleinen Kristalle werden spitzer und verwandeln sich in Nadeln. Ich beuge den Kopf, schütze die Augen und gehe weiter. Aus irgendeinem Grund freue ich mich über das, was passiert. Es bedeutet, dass irgendwo ein Kampf stattfindet.
Es bedeutet, dass noch eine Chance besteht.
Es gibt weder Entfernungen noch Zeiten. Alle Maße sind miteinander verschmolzen. Vielleicht ist eine Stunde vergangen, vielleicht bin ich drei Kilometer gelaufen.
Vielleicht ist der Wahnsinn da.
Das Band flattert vor mir, aber seine Bewegungen werden immer langsamer und unbestimmter. Inzwischen hat der Regen es zerfetzt, so dass es nur noch ein orangefarbenes Netz ist. Noch einmal prasselt er auf das Band ein, dann fällt es nach unten und lässt einen Geysir aus weißem Staub aufschießen.
Ist nun alles aus?
Ich stehe über den Resten meines seltsamen Lotsen. Was jetzt? Wo jeglicher Orientierungspunkt fehlt. Ich schließe die Augen – und höre einen schwachen Laut in der Ferne.
Das Deep-Programm arbeitet nicht mit akustischen Signalen! Es heißt – aber vielleicht sind das nur Gerüchte –, auf dem Rechner von Dima Dibenko sei keine Soundkarte installiert gewesen.
Ich gehe weiter.
Der Laut wird stärker, aber nicht klarer. So murmelt ein Bach im Wald, brandet ein Meer in der Ferne, knistert eine Kerzenflamme. Egal! Selbst wenn ich nur das Echo des Big
Bangs höre, ich brauche diesen Laut – denn er ist das Gegenteil von Stille!
Ein Schritt, noch einer.
Selbst durch die geschlossenen Lider spüre ich: Es hat sich etwas verändert.
Schließlich öffne ich die Augen. Die Welt scheint geradezu verblasst. Der smaragdgrüne Regen hat seine grelle Farbe verloren, ist fahler geworden, da rieseln schon keine Smaragde mehr vom Himmel, sondern nur dreckiges Flaschenglas. Der weiße Staub unter mir ist kaum noch zu erkennen.
Aber vor mir leuchtet ein blauer Stern.
Ein Splitter des Taghimmels.
Vielleicht ist er gewachsen, vielleicht bin ich kleiner geworden, jedenfalls überragt mich die funkelnde Feuerkugel. Ich strecke die Hände aus,
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