Labyrinth der Spiegel
um die warmen Strahlen zu berühren.
Und falle in den Stern.
Wind.
Kalter Wind, von vorn.
Ich stand von der schneebedeckten Erde auf. Wohin ich auch blickte, nichts als eine tischflache Ebene. Kein Horizont, nirgends. Gleitende, ineinander verflochtene orangefarbene Fäden am Himmel, in diesem Netz blaues Licht.
Über der Erde Nebelströme, mal heller, mal dunkler, mal mehr, mal weniger dicht, die dem Wind und dem orangefarbenen Himmelsgitter entgegenwaberten.
Ich klopfte mir den Schnee von den Knien und betrachtete meine Hand. Was für seltsamer Schnee! Die Kristalle
waren zu groß, zu bröckelig, sie verklumpten nicht. Fauchend landeten sie auf meiner Hand, nur um sogleich wie leichter Rauch davonzufliegen.
»Es freut mich, dass du es bis hierher geschafft hast, Ljonja«, sagte der Loser hinter mir. Kaum wollte ich mich umdrehen, schrie er jedoch: »Nein! Nicht!«
Eine Ebene, in Nebel gehüllt, kalter Wind, Flugschnee.
Ich schluckte den Frosch im Hals hinunter. »Ich danke dir … Loser.«
»Ich musste dir doch helfen«, antwortete er sehr ernst. »Es wenigstens versuchen. Schließlich hast du mich gerettet.«
»Nur dass es nicht ganz geklappt hat.«
»Aber du hast mich da herausgeholt. Und mir ist es … dort … wirklich schlechtgegangen.«
»Kann ich mir vorstellen. Aber du hättest das Labyrinth in einer Stunde durchqueren können … in zehn Minuten …«
»Ljonja …«
»Du hättest es einfach verlassen können. Oder alle Rekorde brechen.«
»Nein, das konnte ich nicht.«
»Warum das denn nicht?«
»Hast du das etwa immer noch nicht begriffen?« In seiner Stimme schwang leichte Verwunderung mit.
»Weil du nicht töten wolltest?«
»Richtig.«
»Aber das ist doch nicht echt!«, rief ich.
»Für dich nicht.«
»Ich könnte nie so sein wie du.«
»Das ist auch nicht nötig, Revolvermann.«
»Weißt du was?« Ich kämpfte mit der Versuchung, mich umzudrehen. »Einen Moment lang … also wirklich nur ganz kurz … habe ich geglaubt … dass du der Messias bist. Komisch, nicht wahr?«
»Nein, Leonid«, entgegnete der Loser ernst. »Ich würde auch nicht gern euer Gott sein wollen. Keiner von all den Göttern, die ihr euch ausgedacht habt. Sie sind alle sehr grausam.«
»Wie wir.«
»Wie ihr«, bestätigte der Loser, und seine Stimme klang traurig.
»Ist das ein Traum?«, fragte ich nach kurzem Schweigen. »Alles, was um mich herum passiert?«
Er schwieg extrem lange, derjenige, der da hinter mir stand und mich gebeten hatte, mich nicht umzudrehen. »Nein, Ljonja. Und falls es doch ein Traum sein sollte, dann ist es nicht deiner.«
Das verstand ich. »Danke.«
Mir war nicht kalt, wahrscheinlich weil er es so wollte. Der graue, körnige Schnee unter mir versengte mich nicht und die Nebelströme verbrannten mich nicht zu Asche. Vielleicht war das für ihn eine Kleinigkeit, vielleicht bedurfte es aber auch unvorstellbarer Anstrengungen. Keine Ahnung.
»Seid ihr entkommen?«, erkundigte ich mich.
»Ja. Wir fahren gerade durch die Stadt. Vika nennt dem Fahrer eine Adresse nach der nächsten. Ich glaube, sie weiß nicht, was sie tun soll.« Einen Augenblick verstummte der Loser, dann fuhr er fort: »Und sie weint.«
Orangefarbene Bänder am Himmel. Ein endloser Tanz unter einer heißen blauen Sonne. Auch das eine Form von Schönheit …
»Sag ihr, dass mit mir alles in Ordnung ist.«
»Stimmt das denn?«
»Ich weiß nicht. Kannst du mir helfen, von hier wegzukommen?«
Der Loser antwortete nicht.
»Werde ich von hier weggehen können?«
»Ja. Vielleicht.«
»Sag Vika, dass alles gut ist.«
»Das wird sie nicht glauben.«
»Doch. Sie hat fast so viel verstanden wie ich. Im russischen Viertel von Deeptown gibt es eine Immobiliengesellschaft namens Poljana. Ihr gehört nur ein einziges Haus. Ein hässlicher elfstöckiger Betonklotz. Wartet dort auf mich, am zweiten Eingang, genau in einer Stunde.«
»Sonst noch was, Leonid?«
»Nein, das ist alles.«
»Das wird nicht leicht für dich werden, Revolvermann.« Der Loser zögerte. »Du bist daran gewöhnt, gegen die Tiefe zu kämpfen. Mit aller Kraft und Entschlossenheit. Du bist ein guter Schwimmer, du bist immer aus dem Strudel aufgetaucht. Aber jetzt funktioniert das nicht mehr.«
»Willst du damit behaupten, du vertraust nicht auf die Kraft?«
»Es kommt darauf an, welche Kraft du meinst, Revolvermann.«
Etwas berührte sanft meine Schulter. Wie zum Abschied. Oder um mich zu ermuntern.
Und der Himmel aus
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