Labyrinth der Spiegel
orangefarbenen Fäden stürzte auf die schneebedeckte Erde …
Ich stehe auf. Um mich herum ist alles voller Farbkleckse. Ich schwebe durch ein Kaleidoskop von Funken. Das Deep-Programm läuft. Doch meinen Körper sehe ich nach wie vor nicht.
In mir lebt einzig und allein die kaum spürbare Erinnerung an eine Berührung.
Noch erinnere ich mich an jene Welt, noch lebe ich in ihr. In diesem fremden, fernen Traum …
»Was richtest du hier bloß an, Dibenko?«, hauche ich in die wahnsinnige Stille hinein. »Das geht doch nicht … du darfst ihn nicht wie einen von uns behandeln.«
Doch er hört mich nicht, dieser zufällige Schöpfer der virtuellen Welt, weil er noch immer dem Loser nachjagt, weil er noch immer hinter seinem Wunder her ist. Deshalb muss ich ihn unbedingt finden und ihm erklären, welchem Irrtum er aufsitzt.
Ich schließe die Augen und breite die Arme aus. Durch die geschlossenen Lider registriere ich die Farbexplosionen. Das Deep-Programm will mein Hirn einnebeln.
Jetzt heißt es: Ruhe bewahren! Einem Programm haftet nichts Dämonisches an. Ein Programm ist nur funkelnder Firlefanz, den ein Hypnotiseur vor den Augen seines Patienten dreht. Auch hinter dem Deep-Programm, diesem Firlefanz des elektronischen Zeitalters, steckt nicht mehr. Es gibt keine Grenze zwischen Traum und Traum im Traum. Alle Barrieren baue ich selbst. Und nur ich selbst bin es, der mir einredet, ich würde ertrinken.
Aber jetzt ist es Zeit aufzutauchen.
»Tiefe …«, flüstere ich fast zärtlich. »Tiefe, Tiefe …«
Wir haben sie gebaut, indem wir die Ziegelsteine der Rechner mit dem Zement der Telefonverbindungen zusammengefügt haben. Wir haben eine sehr große Stadt aufgebaut. Eine Stadt, in der es weder Gut noch Böse gegeben hat – bis wir gekommen sind.
Wir haben Probleme mit der Realität gehabt. Dort, wo niemand versteht, wie man sich tagelang im Hack eines fremden Programms, sich monatelang im Schreiben eines eigenen verbeißen kann. Dort, wo niemand über den Preissturz bei Festplatten spricht, sondern nur über den Preisanstieg für Brot. Dort, in jener Welt, wo man richtig tötet. In jener Welt, wo alle es schwer haben, Sünder, Heilige und einfache Menschen.
Wir haben uns eine Stadt gebaut, die keine Grenzen kennt. Wir haben daran geglaubt, dass sie echt ist.
Es ist Zeit aufzutauchen.
Wir haben Wunder gewollt, deshalb haben wir Deeptown mit Wundern vollgestopft. Mit Elfenwiesen und Marswüsten, Labyrinthen und Tempeln, mit den fernen Sternen und den Tiefen der Meere. Für alles fand sich ein Platz.
Aber jetzt ist es Zeit aufzutauchen.
Wir waren müde, an das Gute und die Liebe zu glauben, wir haben uns das Wort »Freiheit« aufs Banner geschrieben – in dem naiven Glauben, dass die Freiheit über der Liebe steht.
Es ist Zeit, erwachsen zu werden.
»Tiefe, Tiefe, gib mich frei«, flehe ich. »Tiefe, Tiefe … ich bin dein.«
FÜNFTER TEIL
Der Loser
00
Zunächst war alles dunkel.
Die Welt hatte sämtliche Farben in einem einzigen Augenblick eingebüßt.
Ich hatte nicht einmal bemerkt, wann und wie das vor sich gegangen war. Eben lief noch das Deep-Programm, jetzt gab es rein gar nichts mehr.
Ob Diver auf diese Weise sterben? Indem sie auf den Grund des virtuellen Raums fallen? Indem ihr Hirn verbrennt und sie nichts mehr aufnehmen?
Doch da zersplittert die Dunkelheit mit einem Mal in ein Gitter aus winzigen Quadraten und verzieht sich. Auch die Farben kehren zurück.
Ich stehe an einer Mauer, die Stirn gegen sie gepresst. Es ist die gezeichnete Mauer eines gezeichneten Hauses.
Seltsam. Als ob ich in den virtuellen Raum eingetreten wäre, ohne das Deep-Programm zu starten. Außerdem blicke ich nicht auf die Displays des Helms, sondern scheine tatsächlich in dieser Welt zu sein! Nur dass diese Welt nicht mehr echt wirkt. Es ist eine designte, eine Zeichentrickwelt.
Sobald ich von der Wand wegtrete, verschmelzen die Quadrate und verwandeln sich in braune Ziegelsteine. Ich spähe in den Himmel hinauf, der nur dunkles Blau und wenig Sterne zeigt. Die Straße ist voller Häuser und Paläste, die wie von Kinderhand gezeichnet wirken: klare Umrisse, alles ausgemalt. Dieses Haus ist aus Ziegelstein, dieser Zaun aus Holz. Hier stehen Tannen. Es gibt Stahlröhren mit gelben Flecken an der Spitze, das sind Laternen. Alles ist Vereinbarung, pure Vereinbarung. Die besseren Bezirke sind etwas aufwendiger designt, aber im Moment befinde ich mich irgendwo am Stadtrand, wo alles auf einfachen
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