Labyrinth der Spiegel
dann kannst du entscheiden, ob du Grund zur Klage hast.« Abermals bewegt sich der Nebel, und das inexistente Gesicht dreht sich mir zu. »Das Lager, wo wir zum ersten Mal miteinander gesprochen haben, liegt in der Duke-Nukem-Straße 42. Dort können Sie sich abholen, was ich Ihnen versprochen habe.«
Wie dreist.
Zuckerbrot und Peitsche.
Sehr, sehr süßes Zuckerbrot.
Der Mann Ohne Gesicht macht einen Schritt auf uns zu, er streckt die Hand nach dem Loser aus. »Gehen wir. Wir haben viel zu besprechen. Ich weiß, wer du bist.«
Der Loser rührt sich nicht.
»Wir werden uns bestimmt einig werden. Das müssen wir einfach. Ich weiß nicht, welche Bedingungen du stellst, aber wir werden für alles eine Lösung finden«, redet der Mann Ohne Gesicht hypnotisierend auf den Loser ein. Uns nimmt er gar nicht wahr, wir sind gekauft und damit aus dem Spiel.
Seiner Meinung nach, logisch. Plötzlich wird mir alles klar.
»Du bist zu lange nicht in Russland gewesen, Dima«, sage ich, und der Mann Ohne Gesicht erstarrt. »Häng dir deinen Orden übers Klo.«
»Willst du damit sagen, dass du nicht käuflich bist, Leonid?«
Damit sind wir quitt. Auch er kennt meinen Namen, eventuell sogar meine Adresse.
»Ja.«
»Verzichte lieber auf Selbstmordaktionen. Ich ziehe es vor, für gute Arbeit zu zahlen. Und diese Lektion lernst du nicht in Russland, nebenbei bemerkt.«
»Ich habe nicht für dich gearbeitet. Im Übrigen gehst auch du ein Risiko ein.«
»Und welches, wenn ich fragen darf?«
»Was, wenn ich dich an Urmann ausliefere? An Friedrich Urmann persönlich? Der ist nämlich ebenfalls hinter dem Loser her!«
»Das ist nicht dein Ernst, Diver!« Der Mann Ohne Gesicht bricht in Lachen aus. »An Urmann persönlich, ja? Und den kennst du, ja?! Pah! Keiner von den Leuten seines Ranges beschäftigt sich mit Angelegenheiten in der virtuellen Welt! Dafür existieren Referenten. Sekretäre, Doppelgänger, Faksimiles, was immer du willst. Gut instruierte Assistenten, die mit der Geschäftsführung im virtuellen Raum betraut werden.«
Ich stecke den Schlag weg, obwohl er gesessen hat. An diese Feinheiten habe ich nicht gedacht. Ich habe immer angenommen, Geschäftsleute würden sich genauso eifrig
in die Tiefe stürzen wie normale Menschen. Trotzdem stecke ich den Schlag weg – eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
»Was spielt das schon für eine Rolle, Dibenko? Ich könnte auch Al Kabar über dich informieren. Du aber kannst mir gar nichts anhaben, denn ich bin ein Diver.«
»Auch Diver haben ihre Achillesferse.«
Er blufft. Was sonst? Ich drehe mich zum Loser um. »Willst du mit ihm mitgehen?«, frage ich ihn.
»Das musst du entscheiden«, antwortet der Loser. Er ist der Einzige, der im Moment nicht den geringsten Funken Angst erkennen lässt. Nein, falsch, für Dibenkos Hackfressen gilt das ebenfalls, wenn auch aus einem anderen Grund.
»Dann gehen wir«, sage ich und nehme den Loser bei der Hand. So komisch das klingt, aber ich bin mir völlig sicher, dass Dibenko uns nicht aufhält. Schließlich ist er kein Idiot! Wenn er weiß, worum es hier geht …
»Tötet die beiden anderen!«, befiehlt der Mann Ohne Gesicht.
Wir drei stehen jedoch zu eng beieinander, deshalb fangen die Bodyguards nicht an zu schießen. Anscheinend haben sie Befehl, den Loser um jeden Preis zu schonen. Die beiden Schläger in der Luft schweben weiter, die drei anderen stürzen sich auf uns.
Was können ihnen zwei unbewaffnete Menschen schon entgegensetzen? Sie werden uns ein paar Schläge mit dem Kolben verpassen, unseren Kisten also ein paar Viren bescheren – und wir sind erledigt. Selbst wenn uns die kühnen Elfen Lóriens beobachten sollten, werden sie sich
nicht einmischen. Ihnen reichen die eigenen Auseinandersetzungen vollends.
Doch uns beobachten nicht nur die Elfen.
Ich weiche dem ersten Schlag aus, stelle dem Angreifer ein Bein, so dass er fällt, denn in Deeptown gelten für alle die gleichen Gesetze. Ich versuche, ihm die MP zu entreißen, in der zarten Hoffnung, dass die Kollektion an Viren als autonomes Dateiobjekt modelliert ist, als plötzlich …
… vom Dach der elbischen Bruchbude ein langer grauer Schatten springt.
Der Wolf klaubt einen der fliegenden Bodyguards aus der Luft und schleudert ihn so mühelos aufs Straßenpflaster, als sei er ein Hampelmann aus Pappe. Die Kiefer des Wolfs knirschen, als er zubeißt, danach rührt sich der Mann nicht mehr. Der Wolf jagt gerade noch rechtzeitig weiter, denn nun
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