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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukianenko Sergej
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seinen Wänden aus rosafarbenem Marmor fällt durch ein Deckenfenster strahlendes Sonnenlicht. Es gibt ein weiches Sofa, einen kleinen Tisch mit Obst und anderem Essen sowie einen wuchtigen geschnitzten Mahagonischrank. Ich schnalle die kugelsichere Weste ab, ziehe die Gasmaske runter, steige aus dem Camouflageoverall und stopfe alles zusammen mit Unmengen von Waffen in meinen »individuellen Spind«. Damit ist garantiert, dass nur ich dieses Zubehör nutzen kann. Nach einer Dusche ziehe ich meine alten Sachen an. Okay, jetzt nichts wie weg. Da mir sowieso schon der Schädel platzt, habe ich nicht die Absicht, einfach aufzutauchen. Außerdem dauert es nur fünf Minuten, zum Hotel zu gehen und die Tiefe auf dem vorgesehenen Weg zu verlassen.
    Aus dem Umkleideraum gelange ich in einen riesigen Säulensaal, von dem aus bereits die Straßen Deeptowns zu erkennen sind. Hier verläuft die Grenze zwischen Twilight City und dem normalen virtuellen Raum, die sich ebenso wenig fassen lässt wie die Schallgrenze im Meer.

    Normalerweise ist der Säulensaal leer. Wenn die Spieler einzeln oder in Gruppen aus der Umkleide kommen, ziehen sie zum nächsten Restaurant, dem BFG9000 , oder in die Bar Cacodemon , um Sieg oder Niederlage zu begießen.
    Heute drängen sich hier jedoch rund hundert Leute. Auch das ist mein Verdienst. Offenbar sind alle da, die ich erledigt habe. Jeder Neuankömmling wird misstrauisch beäugt. Als ob sie unter der Gasmaske mein Gesicht hätten erkennen können! Auch ich werde angestarrt, doch anscheinend passe ich nicht zu dem Bild des erbarmungslosen Revolvermanns, den sie kennengelernt haben, kurz bevor sie aus dem Spiel ausgeschieden sind.
    Kaum nähere ich mich der ersten Gruppe, stockt ihr Gespräch, und ein muskelbepackter Mann mit quadratischem Kinn fragt mich in scharfem Ton: »Hat’s dich erwischt?«
    »Mhm.« Auf meinem Gesicht spiegeln sich Scham und Wut. »Mit einem Granatwerfer … Der Arsch! … ›Ich bin der Revolvermann!‹, hat er getönt.«
    Irgendwie übertreibe ich. Wenn du von einem Granatwerfer getroffen worden bist, dürftest du mehr oder weniger taub sein. Um die Figur des Revolvermanns ranken sich jedoch bereits derart viele Mythen, dass meine Worte lediglich als Standardrechtfertigung eines Verlierers interpretiert werden.
    »Du bist der Hundertste«, teilt mir Quadratkinn mit. »Ich bin Tolik.«
    »Und ich Ljonja.«
    »Hundert Leute hat dieser Dreckskerl umgelegt«, erklärt Tolik ebenso begeistert wie neidvoll. »Woher kommt
der bloß? Das sind die anderen: Jean, Damir, Katka … Er hat uns alle im neunten Level rausgeschmissen.«
    Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht mal an sie. Da ist es ziemlich hoch hergegangen, weil die anderen Spieler einen vorletzten Versuch unternommen haben, sich zu organisieren und dem miesen Revolvermann gemeinsam gegenüberzutreten.
    »Mich hat er im fünfzehnten erwischt!«, sage ich. »Ich ahnte nichts Böses, als er …«
    »Habt ihr das gehört?«, schreit Tolik. »Der Revolvermann ist im fünfzehnten Level!«
    Die Menge reagiert mit aufgeregtem Geheul.
    Ich winke hoffnungslos ab und steuere auf den Ausgang zu.
    »Hey!«, ruft Tolik. »Willst du nicht auf ihn warten?«
    »Ich hab’s doch auch nicht so dicke!«, entgegne ich. »Ihr werdet ihm bestimmt auch ohne mich einheizen!«
    »Da kannst du Gift drauf nehmen«, verspricht Tolik. »Wenn wir ihn erkennen.«
    Irgendwie misstraut er mir, kann seinen Verdacht aber nicht beweisen. Ich nicke und will weiter. Da sehe ich Alex.
    Mein erstes Opfer wartet etwas abseits, wo er schweigend und voller Interesse diesen Wortwechsel verfolgt.
    Anscheinend hat er nicht die Absicht, sich einzumischen. Nein, er will seine Vendetta. Von Mann zu Mann.
    Soll mir recht sein. Ich gehe an ihm vorbei. Nur noch wenige Sekunden, dann werd ich aus dem Saal auf die Straße Deeptowns hinaustreten.

    »Revolvermann!«, ruft es hinter mir, und hundert Leute halten die Luft an.
    Ich drehe mich um. So energisch, wie der Ruf geklungen hat, wäre es sinnlos, unverändert den Blödmann zu spielen.
    Nur war es nicht Alex. Sondern Guillermo.
    »Revolvermann!« Er kommt näher. »Tut mir leid, dass ich Sie aufhalte. Sie haben also acht Levelrekorde aufgestellt, ja?«
    Kann schon sein. Ich habe jetzt keine Augen für Guillermo, sondern ausschließlich für meine hundert Opfer. Ihre Blicke verheißen nichts Gutes.
    »Die Leitung möchte Ihnen mitteilen, dass Sie die ausgeschriebenen Preise nicht einfordern dürfen … nicht

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