Labyrinth der Spiegel
wahr? Schließlich haben Sie einen Vertrag mit uns.«
Wenigstens redet er jetzt so leise, dass uns niemand hört.
»Das habe ich auch gar nicht vor«, gifte ich, bebend vor Wut.
Guillermo begreift offenbar, dass er sich einen ungünstigen Moment für unser Gespräch ausgesucht hat. Aber so hat man es ihm nun mal befohlen.
»Wir wollen Ihnen jedoch eine kleine Prämie zahlen … zweihundert Dollar … als Ausdruck unserer Dankbarkeit für die intensive Arbeit. Sie haben eine sehr gute Reklame für das Labyrinth gemacht … Wir bewältigen die Flut neuer Spieler kaum noch.«
Er macht eine Pause, um sich im Saal umzusehen. »Sie können gleich mit mir mitkommen, um sich das Geld abzuholen«, schlägt er in entschuldigendem Ton vor. »Aus unserem Büro gibt es etliche Ausgänge.«
Vielen Dank auch. Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist es, wenn dich jemand erst ins Moor stößt – und dir dann mitleidig die rettende Hand entgegenstreckt.
»Ich werde bei Gelegenheit mal vorbeischauen.«
Guillermo seufzt und breitet die Arme aus, als wolle er sagen: Ich kann nicht frei entscheiden, man hat mir befohlen, Ihnen diese Nachricht zu überbringen. Daraufhin verschwindet er in der Tiefe des Saals, wo ein Gang liegt, der dem Personal vorbehalten ist.
Neunundneunzig Augenpaare ruhen auf mir.
»Ja, ich bin der Revolvermann«, sage ich.
Neunundneunzig Beinpaare lösen sich vom Boden. Nein, achtundneunzig.
Alex rührt sich nicht vom Fleck, sondern zieht eine lange, funkelnde Pistole aus dem Ausschnitt. »Hau ab, du Arsch!«, schreit er.
Die Anrede gefällt mir nicht, aber der Rat ist gar nicht mal so übel. Bis auf Alex selbst wissen tief in ihrem Herzen vermutlich alle, die sauer auf mich sind, dass ich sie absolut fair umgebracht habe. Laut aussprechen würde das aber keiner von ihnen. Da rächen sie lieber ihren Kumpel, mein ach so unschuldiges Opfer – und vergessen nur zu gern, dass dieser Kumpel noch bis vor kurzem ihr Konkurrent war.
Ich haue ab.
Hinter mir knallen die ersten Schüsse, denn Alex versucht verzweifelt, die Verfolger aufzuhalten. »Du gehörst mi…«
Der Schrei bricht jäh ab. Nicht nur er hat eine Viruswaffe, die für die Straßen Deeptowns zugelassen ist. Vielleicht
hat sich mittlerweile aber auch der Sicherheitsdienst des Labyrinths eingeschaltet.
Ich laufe.
Das Dämlichste, was ich jetzt machen könnte, wäre, mich in Luft aufzulösen. Wenn die angesäuerten Spieler wüssten, dass ich ein Diver bin, würde sich die Jagd zur Hatz auswachsen.
Dabei will ich doch nur schlafen …
Eine Gasse, die nächste, die dritte. Ich gehe mit der Auflösung etwas runter, um schneller rennen zu können. Daraufhin rase ich beinahe an einem Haus vorbei, an dem in allen vier Sprachen Deeptowns steht: Vergnügungen jeder Art.
Zum Glück sind die Aufschriften riesig, zum Glück begreife ich gerade noch rechtzeitig, was sie bedeuten. Und zum Glück erinnere ich mich noch an Maniacs Worte über die Sicherheitssysteme in virtuellen Puffs.
Die Entscheidung fällt mir nicht schwer: Ich stürme durch die gläserne Drehtür.
11
Hier herrscht der Retrostil. Weiche Couches, breite Tische mit bauchigen Karaffen, Schalen mit Obst. Ein bärtiger, schweigender Mann in einer Ecke nimmt sich wie ein Detail der Einrichtung aus. Wer weiß, womöglich handelt es sich bei ihm ja tatsächlich um Sicherheitssoftware.
Über eine Holztreppe kommt eine dunkelhaarige Frau im langen Kleid aus dem ersten Stock herunter. Sie ist deutlich über dreißig, und ihr Gesicht ist so detailgetreu entworfen, dass ich kaum der Versuchung widerstehen kann, aus der Tiefe aufzutauchen und es mir anzusehen. Um zu verstehen, wie es ihr gelungen ist, ein Gesicht zu designen, das derart menschlich aussieht.
Die Frau kommt näher. Genau in diesem Moment begreife ich den Sinn des Ausdrucks »reife Schönheit«.
Reif trifft es genau. In ihr steckt keine Spur von der Jugendlichkeit, die in den Straßen Deeptowns Triumphe feiert. Geschweige denn, dass sie den Gedanken an Unschuld und Reinheit erweckt. Was nur gut ist. Sie hat das nicht nötig.
Die Frau schweigt und lächelt. Als ich merke, dass sich das Schweigen über Gebühr hinzieht, brumme ich: »Hallo.«
»Guten Abend«, erwidert sie.
»Ist nicht eigentlich schon Nacht?«, frage ich.
»Bei uns ist immer Abend.«
Ich werde es mir merken.
»Nennen Sie mich bitte Madame«, sagt die Frau.
»Ich …«
»Namen sind nicht nötig, es geht auch ohne.«
»Ich bin der
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