Labyrinth der Spiegel
sie sich.
Ich nicke. Vermutlich habe ich ziemlich lange so dagesessen und Vika angestarrt. Das Foto ist in der Abenddämmerung aufgenommen, sie sitzt auf dem Holzgeländer einer Veranda, hinter ihr ragt dunkler Wald auf, im hohen Gras steht eine mattgelbe, bauchige Laterne, der Swimmingpool wirkt wie ein schwarzer Spiegel.
»Wir haben die unterschiedlichsten Kunden«, erläutert Madame nachdenklich. »Einigen gefallen Filmstars, anderen Zicken …« Sie lacht leise.
»Wer ist diese Frau?«, frage ich.
Madame sieht mich verständnislos an.
»Hat sie einen realen Prototyp?«
Die Puffmutter lehnt sich gegen meinen Arm, um die Fotografie eingehend zu betrachten.
»Ich habe nicht das Recht, solche Fragen zu beantworten, Revolvermann. Und ich weiß es auch gar nicht. Hier gibt es Tausende von Gesichtern. Viele davon mögen Ihnen
bekannt vorkommen.« Ein angedeutetes Lächeln. »Aber das ist ein Zufall. Erinnert dieses Mädchen Sie an jemanden?«
»Ja.«
»An eine reale Frau?«
»Nicht ganz …« Ich lasse mich nicht weiter zu einseitiger Offenheit hinreißen. »Madame, kann ich … diese Frau treffen?«
»Selbstverständlich.« Unsere Blicke kreuzen sich, unsere Gesichter sind dicht beieinander, in ihren Augen funkeln Ironie und Spott. »Zehn Dollar die Stunde. Vierzig Dollar die Nacht. Wir haben moderate Preise. Uns kann sich jeder Hacker leisten.«
»Sie sind grausam«, sage ich.
»Stimmt. Wenn ich den Eindruck habe, ein sympathischer junger Mann ist gerade dabei, den Verstand zu verlieren, kann ich grausam sein.«
Ich hole meine Kreditkarte heraus. »Vierzig Dollar?«
»Ja.«
Sie bucht das Geld ab. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, Revolvermann«, bemerkt sie nach kurzem Zögern. »Es war einmal ein kleines, dummes Mädchen, das studierte, durch Discos hüpfte und mit Jungen flirtete. Dieses Mädchen liebte einen Sänger. Der trat häufig im Fernsehen auf, gab Interviews, und seine Fotos zierten die Covers diverser Zeitschriften. Er war ein guter Sänger, der von Liebe sang. Und das Mädchen glaubte bedingungslos an die Liebe.«
»Ich weiß, wie solche Geschichten enden«, werfe ich ein. Nicht nur Madame kann grausam sein.
»Der Sänger kam mit einer Tournee in ihre Heimatstadt«, fährt Madame fort. »Das Mädchen war auf allen Konzerten. Mit einem Blumenstrauß erstürmte sie die Bühne, und der Sänger gab ihr einen Kuss auf die Wange. Natürlich kriegte sie, was sie wollte. Am zweiten Abend ging sie in sein Hotelzimmer, das sie erst am Morgen wieder verließ. Danach besuchte sie nie wieder ein Konzert von ihm. Nein, der Sänger war auch im richtigen Leben ein guter Mensch und ein attraktiver Mann. Er war zärtlich und liebevoll, voller Esprit und Witz. Das Mädchen hatte nicht den geringsten Grund zur Klage. Dennoch verlor sie ihren Glauben an die Liebe. Und wissen Sie, warum?«
»Illusion und Realität haben sich miteinander vermischt«, antworte ich.
»Sie verstehen mich. Genau. Es wäre besser gewesen, wenn er ein dreckiger, dummer Hundesohn gewesen wäre. Viel besser. Dann hätte sich das Mädchen ein anderes Idol gesucht oder den Sänger auf der Bühne trotz allem einfach weiterangebetet. Aber so … so war es wie bei einem Spiegel. Als liebe sie ein Spiegelbild. Ein getreues und tadellos reines Abbild. Das genau ihrem Traum entsprach, dem perfekten Mann eben. Nur dass man den aus der Ferne lieben muss.«
Ich nicke.
Natürlich, Madame. Selbstverständlich, meine kluge Puffmutter. Ganz unbedingt, du lebenserfahrene Gebieterin über Liebe und Sex.
Das weiß ich.
»Helfen Sie mir kurz, Madame, hatte ich eigentlich schon bezahlt?«
»Gehen wir, Revolvermann«, sagt Madame seufzend.
Wir steigen die Treppe hoch. Ein Gang, viele Türen. Madame bringt mich zu Zimmer B und legt mir die Hand auf die Schulter. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Revolvermann. Übrigens … diese Geschichte, die ist nicht mir passiert. Aber ich kenne mehr als eine von der Art.«
101
Hinter der Tür liegt kein Zimmer, sondern ein Garten. Ein nächtlicher Garten, dicht mit Gras bewachsen, in dem leise Heuschrecken zirpen und die Luft kalt und frisch ist.
Aber was habe ich denn erwartet?
Ein Hotelzimmer mit wackeligem Bett und vom vielen Waschen klamme Laken? Ha! Ich werde doch wohl nicht einen der wesentlichen Vorzüge des virtuellen Raums vergessen haben – dass du das Innere deines Hauses so gestalten kannst, wie es dir gefällt?
Ich trete in den Lichtfleck auf dem Gras.
Meine Bewegungen sind
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