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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukianenko Sergej
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träge und schlaff, denn obwohl die Müdigkeit von mir gewichen ist, lässt sich eine bleierne Schwere nicht leugnen.
    Es gibt ein kleines Haus, im Sinne einer größeren Datscha oder eines bescheidenen Landhauses. Weit und breit ist niemand. Die Laterne spendet einsames Licht. Einen flüchtigen Moment fürchte ich, Madame habe in ihrem Mitleid beschlossen, mir weibliche Gesellschaft vorzuenthalten. Aber nein, das ist unwahrscheinlich. Mitleid hin oder her, das Geschäft geht vor.

    Ich setze mich vor der Laterne hin, einer altmodischen Petroleumlampe mit Glaskörper. Mit solchen Dingern steigst du in unterirdische Gewölbe hinab. In die Tiefe .
    Motten umschwirren die Lampe, knallen in dem vergeblichen Versuch, ins Licht zu gelangen, gegen das Glas. Wie viel dümmer als Motten doch die Menschen sind. Sie finden immer den Weg zum Feuer, um sich die Flügel zu versengen. Gerade das macht sie zu Menschen.
    Ich höre keine Schritte, doch mit einem Mal legen sich mir zwei Hände auf die Schultern. Unsicher und schüchtern. Als wollten sie sich an mich gewöhnen.
    »Ist es hier immer so ruhig?«, frage ich.
    »Nein.«
    Ich zucke zusammen. Sogar die Stimme ist die gleiche.
    »Das hängt ausschließlich vom Gast ab.«
    »Ich mag es, wenn es still ist«, sage ich, drehe mich aber immer noch nicht um.
    »Ich auch«, erwidert sie. Vielleicht, um mir zu gefallen. Vielleicht meint sie es aber auch ernst.
    Endlich drehe ich mich um.
    Sie sieht genauso aus wie auf dem Foto. Sie trägt einen kurzen Rock, keinen sexy Minirock, sondern einfach bequeme Sommerkleidung. Dazu eine Bluse aus rauchfarbener Seide und graue Sandaletten. Das dunkle Haar hat sie mit einem Stirnband gebändigt.
    Die Frau sieht mich ernst an, mustert mich. Als sei ich kein Kunde, um den sie sich zu kümmern hat, sondern wirklich ein Besucher, den sie einladen, den sie aber auch in die Nacht hinausjagen kann.

    »Ich wurde heute den ganzen Tag Revolvermann genannt«, gestehe ich. »Aber mir wäre es lieber, wenn du mich Leonid nennen würdest.«
    Mit einem Nicken willigt sie ein.
    »Und«, fahre ich fort, »falls es geht, würde ich dich gern Vika nennen.«
    Die Frau schweigt sehr lange, so dass ich schon glaube, ich hätte sie unwissentlich beleidigt.
    »Warum?«, fragt sie schließlich. »Erinnere ich dich an jemanden?«
    »Ja«, gestehe ich. »Ich würde eure Namen sowieso durcheinanderbringen und dich Vika nennen. Lass uns das lieber von vornherein vermeiden.«
    »Gut«, stimmt sie zu, setzt sich neben mich, streckt die Hände aus und wärmt sie über der Lampe wie über einem Lagerfeuer. »Ich gewöhne mich leicht an Namen.«
    »Ich auch.«
    Wir sitzen schweigend nebeneinander. Nach einer Weile gleite ich allmählich in einen Dämmerzustand hinein, tiefer und tiefer.
    »Vika.«
    »Ja, Leonid?«
    »Würdest du mich für total bescheuert halten, wenn ich jetzt einschlafe?«
    »Ich weiß nicht«, antwortet sie. »Hattest du einen schweren Tag?«
    »Die schweren Tage kommen erst noch.«
    »Im Haus gibt es ein Bett … wie du dir ja unschwer denken kannst.«

    Ich nicke. Ich habe nicht die geringste Lust aufzustehen und mich aus der lebenden Stille in die tote zu begeben.
    »Aber wenn du willst, bringe ich dir auch eine Decke nach draußen«, schlägt Vika vor.
    »Danke. Das wäre jetzt genau das Richtige.«
    Kaum steht sie auf, kratze ich die letzten Reste meiner Kraft zusammen.
    Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein … Tiefe, Tiefe, gib mich frei …
    Als Erstes ging ich aufs Klo. Zum Glück waren die Kabel von Anzug und Helm lang genug. Dann schleppte ich mich zum Sofa, ließ mich darauf fallen und warf das Kopfkissen runter. Der VR-Helm gab mir schon meine Liegeposition vor. Morgen früh würde sich mein Hals rächen, aber ich wollte jetzt einfach nicht auftauchen.
    »Vika, starte Deep!«, flüsterte ich Windows Home zu. Ein Farbstrudel, dann bin ich wieder in der Tiefe .
    »Was hast du gesagt?« Vika steht neben mir. Jene Vika, die echt ist. Fast echt.
    »Nichts.«
    Ich nehme die Decke, breite sie im Gras aus und strecke mich aus. Die Frau setzt sich neben mich.
    Ich schaue zu den Sternen hinauf. Sie sind so nahe, so betörend klar. Ich bräuchte bloß durchscheinende, feine Flügel – und schon könnte ich zu ihnen hochfliegen und gegen das unsichtbare Glas knallen.
    »Fühlst du dich nicht einsam hier, Vika? So weit auf dem Land?«
    »Wie kommst du darauf, dass wir auf dem Land sind?«

    »Weil die Sterne so hell sind.«
    »Nein, ich fühle mich nicht

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