Labyrinth der Spiegel
einsam. Es ist alles bestens.«
Als sie sich neben mich legt, rücke ich, damit die Decke für uns beide reicht.
»Magst du den Himmel?«, will Vika wissen.
»Ja. Ich sehe gern zu den Sternen hinauf. Aber ich habe absolut keine Ahnung, wie sie heißen.«
»Wozu brauchen sie schon die Namen, die wir ihnen geben?« Vika berührt meine Hand. »Guck mal, da fällt gerade ein Stern vom Himmel. Direkt über uns.«
»Wir können ihn ja suchen«, schlage ich allen Ernstes vor. Vika antwortet nicht gleich. Voller Entsetzen gewöhne ich mich an den Gedanken, aufstehen zu müssen.
»Nein«, sagt sie dann jedoch. »Du kannst dich ja kaum noch auf den Beinen halten, Revolvermann. Wir suchen ihn morgen. Dann ist der Stern kalt, und wir können ihn anfassen.«
»Morgen früh ist es zu hell«, gebe ich zu bedenken. »Besser morgen Abend.«
»Du bist seltsam«, stellt Vika leise fest. »Gut, suchen wir ihn also morgen Abend.«
»Hast du schon mal einen gefallenen Stern gefunden?«
Vika schweigt, aber ich spüre, dass sie den Kopf schüttelt.
»Der virtuelle Raum hat uns den Himmel genommen«, flüstere ich.
»Siehst du das auch so?«
»Klar. Die Welt versinkt in der Tiefe . Im Spiegelbild der Realität. Warum sollten wir noch zum Mond oder zum
Mars fliegen, wenn wir hier jeden Planeten erreichen können? Die Abenteuerlust ist uns vergangen. Die Neugier.«
»Dafür werden die elektronischen Technologien immer besser.«
»Ach ja? Aber selbst der modernste Rechner ist nur die aufgemotzte Neuauflage seines Vorgängers! In den letzten fünf Jahren ist doch nichts wirklich Neues entstanden. Wir treten auf der Stelle.«
»Mein Gott, da streiten wir uns über die Entwicklung der Technik.« Vika lacht leise. »Leonid, du bist hier in einem Puff!«
»Ich weiß. Langweilt dich das Thema?«
»Nein. Ich … ich bin nur nicht mehr an solche Gespräche gewöhnt.« Nach einer kurzen Pause berührt sie mit ihren Lippen ganz sanft meine Wange. »Schlaf jetzt! Du redest ja schon wirres Zeug, Ljonja.«
Ich widerspreche nicht. Ich will mich nicht mit ihr streiten.
Vor allem weil sie Recht hat.
Ich schließe die Augen und schlafe ein. Unverzüglich.
110
Ich träume. Ich träume oft, denn tagsüber strapaziere ich mein Bewusstsein derart, dass eine Überlastung gar nicht ausbleiben kann. Die Träume retten mich aus dieser Flut von Eindrücken, erlauben mir, das Unausgesprochene auszusprechen.
Normalerweise erinnere ich mich nicht an meine Träume. Mir spuken dann nebulöse Fetzen durch den Kopf, die ich nicht fassen kann. Aber diesmal ist mein Traum klar, und ich erinnere mich bestens an ihn. Vielleicht weil ich im virtuellen Raum geschlafen habe.
Ich befinde mich auf einer Bühne, hinter einem schweren Vorhang. Auf der Bühne selbst steht ein Mann mit Gitarre so stocksteif da, als hielten ihn unsichtbare Ketten. Er singt, die Worte dringen jedoch nicht zu mir, denn zwischen uns liegt die Tiefe , diese Mauer, die gerade zum Leben erwacht und transparent wird. Mit aller Kraft versuche ich, auf den Mann zuzugehen und die Mauer einzureißen, damit ich die Worte hören kann. Aber die Tiefe ist dick und elastisch wie eine Gummimatte. Ich werde zurückgeschleudert, falle
auf die Knie, erstarre und kann mich nicht mehr rühren.
Der Sänger dreht sich zu mir um und sieht mich an. Es kommt mir vor, als würde er jetzt lauter singen. Trotzdem höre ich immer noch nichts. Ich bin durch die Tiefe gefesselt, in sie eingewickelt. Ich bin hilflos.
Mit einem Nicken wendet sich der Sänger wieder ab. Da geht mir auf, dass er der Loser aus dem Labyrinth ist. Der, den ich retten soll – retten und nicht vor ihm auf den Knien herumrutschen, erdrückt von dieser unsichtbaren Gummilast.
Aber ich habe einfach keine Kraft aufzustehen.
Hinterm Vorhang tritt jetzt am anderen Bühnenende ein weiterer Mann hervor. Er steckt in einem Camouflageoverall und hält eine Winchester in der Hand. Grinsend sieht er mich an und hebt die Waffe. Alex.
»Nein!«, schreie ich, aber der Ruf bleibt in der Tiefe hängen.
Alex schießt. Die Kugel durchschlägt den Griff der Gitarre, die Saiten kreischen auf und spulen sich zu straffen Ringen ein, die Blase aus Stille ist geplatzt. Jetzt, wo ich nicht länger von dieser Gummilast erdrückt werde, springe ich auf. Der Sänger stiert fassungslos auf seine zerfetzte Gitarre. Alex zieht den Abzug, doch ich renne bereits auf den Sänger zu, stoße ihn um und werfe mich vor ihn.
»Ich habe dich gewarnt!«, brüllt Alex.
Er
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