Labyrinth der Spiegel
nicht? Geht das gegen die Ehre der Firma? Weil hier Vergnügungen jeder Art erlaubt sind?«
»Sozusagen.«
Das Erdbeben scheint vorüber zu sein. Ich stehe auf, um aus dem Fenster zu lugen. Vereinzelt gehen noch Lawinen nieder. Der Fluss ist voller Geröll und tritt langsam über, um sich ein neues Bett zu suchen.
»Es ist wieder alles ruhig«, flüstere ich mit unwillkürlich gesenkter Stimme. Als ob ich sonst ein neues Beben auslösen könnte. »Wozu brauchtest du dieses Erdbeben, Vika?«
»Was habe ich damit zu tun? Diese Welt lebt nach ihren eigenen Gesetzen. Ich habe längst keine Möglichkeit mehr, sie zu kontrollieren.«
»Überhaupt keine?«
Vika schielt kurz zu mir herüber, ehe sie aufsteht und die veränderte Landschaft betrachtet. »Absolut keine. Eine Welt ist schließlich nur dann eine Welt, wenn sie frei ist.«
»Genau wie ein Mensch.«
»Eben.«
»Glaubst du wirklich derart fest an die Freiheit?«
»An die Freiheit brauchst du nicht zu glauben. Wenn sie irgendwo vorhanden ist, spürst du es sowieso.«
Ich glaube, ich habe gewusst, dass sie das sagen würde.
»Vika, wenn ein Mensch, ein guter Mensch, in Gefahr ist, wenn er kurz davor ist, seine Freiheit für immer zu verlieren … wärest du dann bereit, ihm zu helfen?«
»Das wäre ich«, antwortet sie gelassen. »Er bräuchte dafür nicht mal ein besonders guter Mensch zu sein. Wenn du so willst, ist das ein Prinzip von mir.«
»Ich muss jemanden verstecken.«
»Was meinst du damit, Ljonja?« Vika schüttelt den Kopf, bis ihr die Haare über die Schultern fliegen. »Wo verstecken?«
»Im virtuellen Raum.«
»Und warum?«
»Weil er ihn nicht verlassen kann.«
»Es geht um den Typen aus dem Labyrinth, oder?«
»Genau.«
»Ljonja …« Vika fasst mich bei der Hand. »Wann warst du das letzte Mal in der realen Welt?«
»Vor einer halben Stunde.«
»Wirklich? Brauchst du vielleicht selbst Hilfe? Soll ich …« Sie beißt sich auf die Lippe. »Ich kenne einen Diver. Das ist kein Lügenmärchen, es gibt sie wirklich!«
Gleich krieg ich ’nen Lachkrampf …
»Wenn du willst, bitte ich ihn, sich um dich zu kümmern.«
»Vika …«
Sie schweigt.
Ehrlich gesagt, bin ich an eine derartige Sorge nicht gewöhnt. Das ist schließlich mein Job: Leuten zu helfen, die sich im virtuellen Raum verirrt haben.
»Ich helfe dir«, verspricht Vika. »Aber ich glaube … du machst einen Fehler.«
Mir ist absolut nicht danach, mich mit ihr zu streiten.
»Danke. Ihr habt doch eine gute Sicherheitssoftware, oder?«
»Eine ziemlich gute, ja. Verstehst du was davon?«
Ich nicke. Okay, ich kann kein entsprechendes Programm schreiben. Aber geknackt habe ich die Dinger schon so oft, dass ich mich völlig zu Recht als Experte bezeichnen darf.
»Dann frag den Magier danach.«
»Wird er denn mit der Sprache rausrücken?«
»Wenn du ihn ansprichst, bestimmt nicht. Und auch wenn ich ihn bitte, nicht. Aber wenn Madame ihn auffordert …«
Vika stockt und wirft mir einen Blick zu, als wolle sie mich bitten, das Zimmer zu verlassen. Doch als ich zur Tür gehe, ruft sie: »Bleib hier, Ljonja. Ich will, dass du es siehst.«
Sie tritt vor die Wand und fährt mit der Hand über sie. Die Täfelung gleitet auseinander und gibt eine schmale Tür frei.
Dahinter schimmert Licht. Ein kaltes, bläuliches Licht, ein totes Licht. Vika wartet kurz in der Tür, bevor sie in den Raum verschwindet. Ich folge ihr, obwohl ich es nicht will. Doch ich bin wie hypnotisiert.
Ein Lager. Oder ein Leichenschauhaus. Oder das Museum von Blaubart.
An den Wänden funkeln vernickelte Haken, an denen menschliche Körper hängen, die mit den Füßen fast den Boden berühren. Hauptsächlich junge Frauen, hell- und dunkelhaarige, aber auch eine paar rothaarige und eine völlig kahle. Ein paar Frauen mittleren Alters und Greisinnen sowie einige Mädchen und Jungen.
Sie alle haben offene Augen, in denen jedoch nichts als Leere liegt.
»Das ist mein Kostümfundus«, erklärt Vika.
Ich erwidere kein Wort, denn das habe ich auch so begriffen.
Vika geht an den Körpern entlang, betrachtet die toten Gesichter und flüstert etwas, fast als begrüße sie sie. Madame hängt ganz am Ende des ersten Dutzends. Vika dreht sich zu mir zurück, um sich zu überzeugen, dass ich sie beobachte, dann schmiegt sie sich an den prächtigen Körper der Puffmutter, umarmt ihn, als sei sie von einer perversen Leidenschaft gepackt.
Zunächst passiert gar nichts. Doch plötzlich – und diesen
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