Metastasierender Brustkrebs ist nicht heilbar, nur noch palliativ zu behandeln: Die Beschwerden können gelindert werden, der Krebs kann jedoch nicht mehr besiegt werden. Das wusste Jen aus dem Medizinstudium, und Amelia wusste es aus Erfahrung, denn Jen war tot. Ihre statistische Lebenserwartung hatte nach der erneuten schockierenden Diagnose noch eins Komma vier Jahre betragen. Aber so viel Zeit war ihr am Ende nicht mehr geblieben, trotz erneuter Chemo, trotz wiederholter Bestrahlung, trotz fortwährender Hormontherapie. Amelia erinnerte sich genau, wie verzweifelt Jen während dieser wenigen Monate vor ihrem Tod war, wie viel Angst sie beide hatten.
Sie hatten sich ein Kind gewünscht, ein süßes Baby, und die künstliche Befruchtung durch Samenspende hatte auch sofort geklappt. Doch die Schwangerschaft, die beiden so viel Freude geschenkt hatte, endete nach zwölf Wochen mit einer Fehlgeburt, und sie verloren ihr Sternenkind. Die Trauer hatte sie überwältigt. Sie war so aufgeregt gewesen, so voller Vorfreude, den Herzschlag ihres Kindes im Ultraschall zu sehen. Jen und sie hatten stundenlang geweint und versucht, damit klarzukommen.
Bei der Nachsorge war bei Jen metastasierender Brustkrebs diagnostiziert worden. Je jünger die Erkrankte, desto aggressiver der Krebs, heißt es. Am Ende hatte er von ihrem ganzen Körper Besitz ergriffen, fraß sich gierig in Knochen und Organe und vergiftete das Blut. Jens qualvoller Tod auf der Intensivstation hatte Amelia in die existenziellste Krise ihres Lebens gestürzt. Denn fünf Monate zuvor hatte sie ihre Mutter an denselben Krebs verloren.
Damals hatte sie den Kampf aufgenommen, und sie würde ihn auch jetzt nicht aufgeben!
Eine Metastase in der Lunge, vielleicht mehr.
Was jetzt?
Amelia trank einen Schluck Espresso Macchiato, um in Ruhe nachzudenken. Heute war Samstag.
Sollte sie Shainee verständigen? Aber was wollte sie ihr denn sagen?
Amelia stellte den Pappbecher weg. Nein! Sie konnte jetzt nicht mit ihr reden. Noch nicht.
Sie zog den Befund des UCSF Medical Center zu sich heran. Ah, da unten stand die Mailadresse von Dr Margolis.
Von: Amelia Ryan amelia.ryan@californiastreet. medicalcenter.com
An: Mandy Margolis
[email protected] 18.06.2011 / 11:56
Betreff: MRT Shainee Ryker
Mandy, gerade habe ich mir die DVD mit dem MRT des Abdomens angesehen. Ich würde gern mit Ihnen als Radiologin über den Befund und mit einem Thorax- und Kardiovaskularchirurgen über eine sofortige Biopsie sprechen. Von der Website surgery.ucsf.edu weiß ich, dass Dr Lynn McLeod, die vor zwei Jahren meine Lebensgefährtin Jennifer operiert hat, noch bei der UCSF tätig ist. Ich würde gern auch mit Lynn über Shainee Ryker sprechen. Rufen Sie mich an? Amelia.
Sonst findet Shainees Leben ohne sie statt.
»Du weißt, wie oft ich als Anwalt für die Vereinten Nationen in aller Welt unterwegs war.«
»Heute New York, morgen Ruanda, übermorgen Sudan.«
Hayden lächelte schwach in die Videocam. »Mit Stopover in Äthiopien.«
»Um am Flughafen von Addis Abeba mit Vertretern der somalischen Regierung zusammenzutreffen.«
»Und mir während des Fluges die Proteste der Regierung von Eritrea anzuhören«, seufzte Hayden. Hinter ihm war das zerwühlte Bett im Gästezimmer zu sehen – nach dem langen Flug von New York nach San Francisco und dem Abend an Lexies Bett hatte er heute Morgen ausgeschlafen. Der Stapel Koffer, Taschen und Transportboxen neben der Tür zum Bad war noch nicht ausgepackt. »Jedenfalls hab ich’s hingeschmissen. Ich komme zurück, nach San Francisco, nach Hause. Ich will wieder leben . Wenn du verstehst, was ich meine.«
Shainee nickte langsam. »Ich verstehe dich sehr gut.«
»In letzter Zeit muss ich oft an Mom und Dad denken ...« Er senkte den Blick und knibbelte an dem Notebook auf seinem Schoß herum, sodass die Videocam am Monitor vibrierte und die Skype-Übertragung wackelte wie bei einem Erdbeben. »... an 9/11 ... an Flugzeuge, die ins World Trade Center rasen ... an Explosionen und Rauchschwaden über ganz Manhattan, die mir den Atem rauben ... an fallende Menschen, die vor mir auf dem Boden aufschlagen ... an einstürzende Türme.« Er holte tief Luft. »An die Tatsache, dass sie tot sind, und ich lebe.«
»Hayden ...«, sagte sie sanft. »Wärst du zur verabredeten Zeit in deinem Anwaltsbüro im Nordturm gewesen, wärst du mit ihnen gestorben.«
Seine schicke Kanzlei hatte sich im sechsundneunzigsten