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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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drangen aus seinen Poren, rannen am Zweig entlang und fielen zu Boden. Der Baum weinte schwarze Tränen.
     

Zwei Schiffe
    Durch den dunklen Himmel wirkte das Wasser des Meeres wie ein Ungeheuer mit vielen Köpfen, dessen unzählige schwarz glänzende Zungen in der zunehmenden Abenddämmerung am zerklüfteten Ufer schleckten. Die Luft roch nach Tang. Nebel kroch den Strand hinauf. Auf einer der kleinen Landzungen, die das Wasser aus dem Ufer gespült hatte, saß ein Wesen, nicht Frau, nicht Mann. Wie weit es überhaupt menschlich war, man konnte es kaum erkennen, da sein Gesicht hinter den hohen Aufschlägen seines Kragens glatt verschwand. Immerhin, seine Figur wirkte menschlich, seine Hände allerdings eher wie Klauen.
    Sein Name war Ilein. Kühler Wind griff in sein dunkelblaues Kleid und blies ihm das eisgraue lange Haar um den Kopf, wobei man von Kopf kaum sprechen konnte. Um der Dämmerung zu begegnen hatte Ilein drei Talglichter aufgestellt. In dieses flackernde Dreieck hinein warf es immer wieder ein Handvoll Steine. Mit murmelnder Stimme kommentierte es jede Stellung. Offenbar hatten die Steine jeder für sich eine besondere Bedeutung geformt in der Geschichte seines langen Lebens. Aber auch die Stellung zueinander schien Gewicht zu haben, denn sie gab Ilein Auskunft über das, was war und das, was sein würde.
    Als die ersten Nebelfetzen seine Landzunge erreichten, veränderte sich Ileins Stimme zunehmend. Es murmelte jetzt nicht mehr nur monoton und leise. Seine Stimme klang tiefer, kräftiger, eindrücklicher, fordernder. Es hörte auf, die Steine handweise zu werfen und begann, sie jetzt sorgsam zu setzen, Stein für Stein. Ilein suchte das Muster. Einundzwanzig Steine mussten zuletzt vor ihm liegen. Jeder einzelne zum Bersten gefüllt mit der Kraft intensivster Erlebnisse, der eiskalten Energie unaussprechlicher Lieblosigkeiten und dem verzehrenden Feuer heißer Lieben; den unsäglichen Abgründen des Verrates, den lichten Höhen unverbrüchlicher Treue; dem grellen Klirren von Sklavenketten und der modrig dumpfen Luft tiefer Verließe, sowie mit dem silbernen Flügelschlag kosmischer Weite und Freiheit.
    Jeder Stein fand seinen Platz und Ilein sprach mit immer eindringlicher werdender Stimme die unsagbaren, verbotenen Worte in die einbrechende Nacht hinein. Nun teilte sich der Nebel und gab den Blick auf zwei Segelschiffe frei, die vom offenen Meer sich dem Strand wohl zu weit genähert hatten und nun versuchten, den sicheren Hafen anzulaufen, der allerdings noch ein gutes Stück Richtung Osten lag. Die weißen Segel bauschten sich im kühlen Abendwind vor den Rahen und ließen an wilde Vögel denken, die sich nach langem gefährlichem Flug ihrer Ruhestatt näherten.
    Auf dem Segelschiff, das Ilein näher stand, erklang Musik. Viele Menschen bewegten sich über das Deck, einige schienen sogar zu tanzen. Freudig erregte Stimmen schallten über das Wasser. Ein Fest rauschte einher, das niemanden an Bord ungerührt ließ. Bunte Wimpel flatterten an den Mastspitzen, etliche sogar an den Rahen.
    Wenn auch das zweite Schiff ebenfalls weiße Segel trug, herrschte auf ihm doch eine ungleich andere Stimmung. Kein einziges lebendes Wesen war an Deck zu erkennen. Vor dem Steuerhaus stand festgezurrt ein schwarzer Sarg. Und da er mit einigen Tauen zusätzlich ans Steuerhaus selbst gebunden war, sah es auf gespenstische Weise so aus, als lenke er das Schiff. Nur eine Flagge führte dieses Segelschiff. Ein riesiges schwarzes Tuch hing vom Hauptmast herab, so dick und schwer, dass selbst die steife Abendbrise es nicht zum Flattern bringen konnte.
    Noch fünf Steine hielt Ilein in der Hand. Seine Stimme forderte, wurde immer schärfer und härter. Es setzte den siebzehnten Stein mit rascher Bewegung und präzise.
    Das Schiff mit der schwarzen Flagge stand schräg hinter dem bunten Segler und etwas weiter vom Strand weg. Nun veränderte es beinahe unmerklich seinen Kurs und drehte etwas höher an den Wind. Und da es vorher etwas zurückgelegen hatte, kam es mit diesem leichten Steuermanöver auf Kollisionskurs mit seinem beschwingten Partner.
    Noch trennte eine gute Kabellänge die nächtlichen Tänzer von dem schwarzen Sarg, noch war keiner der Feiernden, und das waren inzwischen so gut wie alle, einschließlich der Mannschaft, der Offiziere und des Kapitäns, auf die neue Lage aufmerksam geworden.
    Ilein setzte den achtzehnten Stein. Das entstehende Muster sah nun fast so aus wie ein Stern, ein fremder, großer

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