Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
wäre es nie da gewesen. Ileins Muster war perfekt aufgegangen.
Gabriel
Tief im Mooseichenwald entspringt eine Quelle. An dieser Stelle lacht ein kleiner Teich durch das Geäst der Eichen dem Himmel entgegen. Der Teich schimmert bei Windstille wie die polierte Seite eines schwarzen Edelsteines.
In den Dörfern der Umgebung wird gemunkelt, dass der Teich sich einmal im Monat öffnet und die Quelle sichtbar wird. Keiner weiß den Tag oder die Stunde, ob es bei Vollmond geschieht oder bei Neumond, ob überhaupt nachts oder eher tags. Vielleicht geschieht es nachmittags, wenn sich die Sonne satt ins Schweigen des Waldes senkt. Auch über die Wirkung auf die Menschen, die zufällig Zeugen dieses kostbaren Augenblickes werden, ist die Meinung geteilt. Keiner weiß, ob sie durch den unverhofften Augenblick glücklich werden oder unglücklich oder verrückt oder alles zusammen. Keiner weiß, was sie überhaupt sehen, wenn sich die Quelle offenbart.
Tatsache ist, dass etliche Menschen im Laufe der Zeit im Mooseichenwald verschwanden. Etwas geschah mit denen, die hineingingen und nicht wieder herauskamen. Aber keiner wusste genau, was. Die Geschichte, die es zu erzählen gilt, geschah letztes Jahr im Juni. Zweifelsohne steht der Juni für berstende Sonnenkraft, nicht so in dem Jahr dieser Geschichte.
Es war gegen Abend, als endlich einige schon geschwächte Sonnenstrahlen dem Wolkenkäfig entkamen, der sie schon den ganzen Tag über gefangen gehalten hatte. Froh über die Befreiung, prallten sie mit letzter Kraft auf eine Erde, die die schon anfing, feucht zu werden. So dauerte es nur einige Augenblicke, bis sie im Boden weißen, dichten Nebel geweckt hatten, der daraufhin das Land bedeckte wie hoher Schnee.
Auf diesem weißen Teppich glitt der Oberkörper eines Mannes den Berg hinunter. Seine Beine, die ihn in Bewegung hielten, versteckte der Nebel. Seine dunklen langen Haare wippten bei jedem Schritt, mit dem er sich dem Mooseichenwald näherte. Kein Laut war zu hören obwohl die Vögel zu dieser Tageszeit durchaus mehrstimmig hätten zu hören sein müssen. Nur drei Krähen fühlten sich offenbar gestört, als der Mann den Wald betrat und erhoben sich laut schimpfend von der Eiche und strichen über den wallenden Nebel hin ab. Das Reich des Nebels endete bei den ersten Eichen. Der Mann verhielt eingangs des Waldes seinen Schritt nicht, sondern strebte zügig weiter, um noch vor Einbruch der Dunkelheit Mugelheim zu erreichen, was durchaus im Bereich des Möglichen lag, wie man im Wirtshaus "Zur grünen Krone", dem Ort seiner Mittagsrast, versichert hatte. Erst als er einer besonders dicken Eiche, die mitten auf dem Waldweg wuchs, ausweichen musste, kam er aus dem Schritt, verlor er seinen Rhythmus. Mit seinen Gedanken schon bei dem Handel, den er in Mugelheim abzuschließen gedachte, brachte ihn diese Störung in seine tatsächliche Umgebung zurück. Eigentlich erst jetzt nahm er den Wald richtig wahr, dessen Eichen ihn wie graugrüne Urwelttiere umringten. Er blieb stehen und bemerkte in diesem Augenblick das schwarze Glitzern, das rechter Hand die Bäume durchdrang. Neugierig geworden trat der Mann ein paar Schritte vom Weg und gelangte unvermittelt zu einem kleinen Teich, dessen absolute Schwärze ihn sofort in ihren Bann schlug. Wie ein perfekt polierter Spiegel gab der Teich das genaue Abbild von auf dem Kopf stehenden Eichen wieder und blieb doch selbst undurchdringlich. Der Mann trat so nah an diesen Spiegel heran, dass dessen schwarze Wasser schon seine Schuhe zu netzen begannen.
Da verlor der Teich plötzlich seine Undurchdringlichkeit und ließ den Blick des Mannes in seine Tiefen fallen, dorthin, wo die Quelle entsprang.
Mit vor Staunen immer größer werdenden Augen gewahrte der Mann, dass der Quell nicht einfach dahinrieselte, wie es Quellen normalerweise zu tun pflegen, sondern empor sprudelte, einem Springbrunnen gleich, der die Farben des ganzen Kosmos spiegelte. Der Strahl des Springbrunnens bildete einen Bogen, wurde immer größer, erhob sich von dem Seegrund und stand nun wie ein Regenbogen über dem Teich. Er sah im Licht des Bogens einen altersschwachen Kahn am Ufer liegen, fast völlig zugedeckt von den Ufergewächsen. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, stieg der Mann in den Kahn, griff zu den verrotteten Rudern und glitt mit zwei Ruderschlägen durch das leuchtende Tor. Kaum hatte er das getan, war ihm klar, dass er sich in einer anderen Welt befand. Er spürte sofort: Hier liefen die
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