Lacunars Fluch, Teil 4: Rastafans Buße (German Edition)
sagt mir bitte, was mich hier erwartet. Hat Morphor mir vergeben, oder verlangt er meinen qualvollen Tod?«
»So ein Unsinn! Du bist hier, weil ich dich davon überzeugen will, dass euer Glaube verkehrt und sinnlos ist. Niemand verlangt von euch, dass ihr euch im Schmutz wälzt, euch geißelt und der Liebe zwischen Männern enthaltet. Diesen Morphor gibt es nicht, und eure Schuldgefühle redet ihr euch ein. Sie sind unnötig.«
Tiyamanai hörte mit Entsetzen zu. Denn wenn Morphor ein Trugbild war, dann hatten sie alle umsonst gelitten, und es warteten auch keine grünen Gärten auf sie. Wollte der König seinen Glauben jedoch nur auf die Probe stellen und er versagte, dann würde er auf ewig in Razoreths dunklen Abgründen schmachten.
»Ich glaube, du brauchst jetzt etwas Anständiges zu essen und zu trinken, dann reden wir weiter. Bei Morphors Gemächte! Ich erwarte nicht, dass du deine jahrelange Verblendung sofort ablegst. Aber ich hoffe, dass ich später ein paar vernünftige Worte an dich richten kann.«
Tiyamanai nickte stumm. Ihm war, als habe seine Welt einen Riss erhalten, durch den eine unvorstellbare Wahrheit hindurchschimmerte. Er wagte es aber nicht, ihr ins Auge zu blicken.
Der König erhob sich. »Komm, wir wollen draußen an der frischen Luft essen. Ich habe auf der Terrasse decken lassen.«
Tiyamanai folgte Rastafan mit tauben Sinnen wie ein Blinder, der sich seinem Führer anvertraut. Dabei setzte er jeden Schritt so tastend, als brächte er ihn einem Abgrund nahe, in den er jeden Augenblick hineinzustürzen drohte. Doch als sie die weiträumige Terrasse betraten, wurden Tiyamanais Augen weit, und erschüttert sank er in die Knie. »Die grünen Gärten Morphors!«, stammelte er.
Rastafan half ihm auf, bevor ein Diener ihm beispringen konnte. »Das ist nur ein Teil der Palastgärten«, beruhigte er ihn. Er führte den Taumelnden an den Tisch. Auf dessen Gesicht lag ein beseligender Glanz. Er streckte zitternd den Arm aus. »Und da, der silberne Brunnen!«
»Er ist hübsch, nicht wahr? Du siehst, das alles bietet dir unsere Welt, du brauchst nicht auf Morphor zu warten.«
»Ja, Euch wird das alles geboten«, erwiderte Tiyamanai und konnte seine Augen nicht von der Pracht der Bäume, Blumen, Statuen und Springbrunnen lösen. »Ihr seid der König, doch wir …«
»Ihr seid fehlgeleitete Menschen, die sich vor einem Nichts fürchten.«
»Aber es muss doch wahr sein«, beharrte Tiyamanai. »All die Jahrhunderte hindurch leben wir in diesem Glauben, richten wir unser Leben nach ihm aus.«
»Ein Irrtum wird nicht dadurch besser, dass man ihm jahrhundertelang anhängt. Und nun greif zu, Tiyamanai, sonst wird das gute Essen kalt.«
Tiyamanai starrte verwirrt auf die silbernen Schüsseln und Teller. Rastafan winkte den Diener, der vorlegen wollte, fort. »Wir bedienen uns selbst, du kannst gehen.« Dann lüftete er den Deckel von zwei Schüsseln, aus denen ein unvergleichlicher Duft aufstieg, wie Tiyamanai ihn noch nie gerochen hatte. Rastafan lächelte ihm zu. »Die Küche hat sich wieder einmal überschlagen und uns gleich zwei Gerichte serviert. Was möchtest du? Rebhuhn in Granatapfelsoße oder Entenbrüstchen mit Feigen in Weinsoße?«
»Ich – ich kenne nur Brot aus Bohnenmehl und gekochten Kohl«, stotterte Tiyamanai.
»Ich würde dir beides empfehlen«, überging Rastafan dieses Geständnis. »Erst ein zarter Rebhuhnschenkel, dann die Ente.«
Tiyamanai lächelte zaghaft und nickte. Rastafan füllte ihm auf. »Bitte reiß dich zusammen. Du sitzt hier nicht mit Razoreth zu Tisch, der dich mit glühenden Kohlen füttern will.«
Tiyamanai erschrak. »Ja Herr.« Eine Frage lag ihm auf der Seele, die er aber nicht auszusprechen wagte: Seid Ihr wirklich der König? Denn das konnte er immer noch nicht glauben. Ein König lud keinen Zylonen zum Essen ein. Ein König war nicht so lustig. Ihm fiel ein, dass er seinen Namen nicht kannte, aber auch nach dem wagte er nicht zu fragen.
Er begann zu essen, und es zerging ihm auf der Zunge. Am liebsten hätte er alles aufgegessen und nach mehr verlangt, so ausgezeichnet war es. Aber das gehörte sich nicht. Er zwang sich, langsam und manierlich zu essen und achtete darauf, dass er sich dabei nicht beschmutzte. Er fühlte sich vom König beobachtet, aber er hob nicht den Blick.
»Ich sehe, es schmeckt dir, Tiyamanai. Ja, der Koch ist gut, er stammt aus Samandrien, die sind für ihre gute Küche berühmt. Trink auch von diesem Wein. Er ist süß,
Weitere Kostenlose Bücher