Lacunars Fluch, Teil 4: Rastafans Buße (German Edition)
Gewölk von ineinanderfließenden Farben und Formen. Von fern hörte er eine Stimme. »Komm näher!«
Tiyamanai versuchte, einen Fuß zu heben, musste aber feststellen, dass Morphor ihn mit seiner göttlichen Hand berührt und gelähmt hatte. So begann es also. Als er den Finger des Gottes erkannte, wurde er ruhiger.
»Komm her, bleib nicht an der Tür stehen!«
Tiyamanai folgte der Stimme. Die Lähmung war verschwunden, sein Blick wurde klarer. Dort saß ein Mann in einem schlichten Gewand und wies mit einer einladenden Handbewegung auf einen Stuhl neben sich. Er hatte langes schwarzes Haar, das im Nacken zusammengebunden war. Und seine Augen – seine Augen – und sein Lächeln – Tiyamanai stieß einen ächzenden Laut aus. Das war der Mann aus dem Morphortempel, mit dem er nackt in der warmen Quelle gesessen hatte. Doch wo war der König?
»Ihr seid es?« Er fuhr sich über die schweißnasse Stirn. »Seid ihr auserwählt, mich vor den König zu bringen? Oder narrt mich Morphor mit einem Trugbild, um mich zu verführen?«
Der Mann lachte. »Verführen? Wozu denn?«
»Oh, sprecht nicht darüber, ich bitte Euch!« Tiyamanai sank auf die Knie. »Ich bin befleckt von Unzucht und habe nicht dafür gebüßt, doch jetzt will ich jede Strafe auf mich nehmen.«
Der Mann stand auf und kam auf ihn zu. Er fasste ihn bei den Händen und hob ihn empor. »Steh auf und rede kein dummes Zeug. Setz dich dorthin.«
So starke, warme Hände! Die Erinnerung! Tiyamanai schloss die Augen. Er ließ sich wie ein Kind zu seinem Sitzplatz führen. »Ich bin unwürdig«, stammelte er. »Aber ich bleibe standhaft. Der König soll mich reumütig und bereit finden.«
»Aber Tiyamanai, ich bin der König. Hast du das nicht gewusst?«
Der Zylone riss die Augen auf, fasste sich an den Kopf und gab ein undeutliches Wimmern von sich. Dann kippte er bewusstlos vom Stuhl.
Rastafan fing ihn auf, bevor er auf den Boden aufschlug, und gab ihm leichte Backenstreiche. Es dauerte eine Weile, bis Tiyamanai wieder zu sich kam. Er fand sich in einem Sessel sitzend, aus dem er nicht mehr herausfallen konnte. Er blinzelte. Vor ihm saß der Mann aus dem Morphortempel – doch was war geschehen? Hatte er nicht behauptet, er sei der König?
»Geht es dir wieder besser?«
So eine dunkle, teilnahmsvolle Stimme! Die Worte kamen wie aus weiter Ferne zu ihm: »Was für ein hübscher Kerl du bist! Komm, lass dich anfassen, du bist doch gut gebaut da unten.« Zwei nackte, feuchte Leiber, die sich keuchend aneinander reiben und vor Lust vergehen. Zwei Männer, die sich wollen und nichts von Morphor wissen, und einer von ihnen ist der König!
Er hatte es mit dem König getrieben. Doch damit nicht genug. Sieben seiner Mitbrüder hatten das königliche Gesäß – die Erinnerung daran war so außerhalb jeder Vorstellung, dass Tiyamanai meinte, darüber müsse man sogar ohnmächtig werden. An die Folgen jener Tat wagte er nicht zu denken. Was dem König im Morphortempel angetan worden war, das löschten kein Pfahl und kein mit Ratten bevölkerter Kerker aus. Das war ein Frevel, der selbst Morphor erbleichen lassen musste. Aber warum sprach der König freundlich mit ihm, und weshalb befand er sich in einem bequemen Sessel, statt ausgestreckt auf einer Folterbank?
»Seid Ihr wirklich der König?«
»Ich bin es. Aber du flatterst ja wie ein Hemd im Wind. Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Das weißt du doch. Oder hast du unser angenehmes Erlebnis bei den warmen Quellen vergessen?«
Tiyamanai versuchte, sich zu beruhigen. Bisher war ihm nichts geschehen. Der König war kein Ungeheuer. Er war nicht durch Morphor ausersehen, ihn zu strafen. Im Herzen war er ein – Tiyamanai wollte den Gedanken nicht zulassen, aber es schien keinen Zweifel zu geben: In seinem Herzen war der König ein Zylone. Und sein Freund, der Mondpriester, ebenfalls. Allmählich fügten sich die Bruchstücke in Tiyamanais Kopf zusammen. Was musste er daraus schließen? Die Edlen und Hochgeborenen waren frei von jeglicher Schuld. Nichts konnte sie beschmutzen, sie waren rein von Geburt an und durften sich mit Männern vergnügen, weil sie – weil sie auserwählte Menschen waren, denen alles erlaubt war, wie ja auch die Götter niemandem Rechenschaft schuldig waren.
Und ihn – Tiyamanai – hatte der König zu sich emporgehoben und ihn von aller Schuld freigesprochen. Er musste ihn danach fragen, es war wichtig.
»Nie werde ich jenen Tag vergessen«, sagte Tiyamanai. »Aber
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