Lacunars Fluch, Teil 4: Rastafans Buße (German Edition)
die Leute hier umtrieb.
Wieso fürchten sie mich?, überlegte Gaidaron. Ich bin doch ein Fremder.
Allmählich lichteten sich die Häuserreihen und machten Feldern und Wiesen Platz, auf denen Schafe und Ziegen weideten. Nur hin und wieder stand ein einsames Haus unter Bäumen, in dem wohl der Pächter dieser Wiesen wohnte. Dahinter erblickte Gaidaron die Stadtmauer, er befand sich also immer noch in Khazrak. Schon wollte er umkehren, denn er meinte, hier nichts Besonderes mehr zu entdecken, als er einen merkwürdigen Gestank wahrnahm. Er wunderte sich darüber, denn Khazrak war eine sehr saubere Stadt, und er hatte keinen Abfall in den Gossen gesehen.
Hinter einer Pappelreihe erstreckte sich ein weites Feld, auf dem merkwürdige Gerüste standen. Je dichter Gaidaron herankam, desto schlimmer wurde der Gestank. Aus der Nähe sah er, worum es sich handelte: Menschen waren an ihren Füßen an langen Stangen aufgehängt. Er zählte an die zwanzig. Offensichtlich handelte es sich bei ihnen um Verbrecher, und das hier war die Hinrichtungsstätte. Unzählige Raben hockten auf den Stangen oder umflatterten sie und krächzten fröhlich über den gedeckten Tisch. Einige Leiber waren bereits in Verwesung übergegangen, andere noch frisch, und einige lebten noch. Gaidaron erkannte es an den vergeblichen Versuchen der Opfer, die Schwärme von Fliegen abzuwehren, die ihnen in Augen und Ohren krochen.
Sieh an, dachte er, das ist also die Kehrseite dieser schönen Stadt. So etwas hatten wir auch einmal in Margan, aber Rastafan hat die Pfähle und Käfige abgeschafft. Vielleicht sollte ich ihm diese Stangen empfehlen, das wäre einmal eine Abwechslung. Mitleid mit Verbrechern verspürte er nicht, das hatte er sich in Margan schon als Knabe abgewöhnen müssen. So schrecklich dieser Ort war, es ging auch eine morbide Faszination von ihm aus, und Gaidaron beobachtete eine Weile das Fuchteln der Arme. Sie würden nicht mehr lange leiden, das Blut stieg ihnen zu Kopf, und Durst und Hitze taten ein Übriges.
Der Pfahl ist grausamer, dachte er, als er den Rückweg antrat. Die hier sterben schnell. Auch er war schneller ausgeschritten, denn er wollte dem Gestank entfliehen. Als er wieder unter Menschen war, entdeckte er auf einem Platz jene Sänfte, die ihn hergebracht hatte. Die dazugehörigen Männer saßen auf dem Rand eines Brunnens und ruhten sich aus. Vielleicht warteten sie auf jemanden. Gaidaron schlenderte auf sie zu. Sie erkannten ihn wieder, und einer von ihnen fragte ihn demütig, ob er eine Sänfte benötige.
Eine Sänfte und noch mehr, dachte er und lächelte den Burschen freundlich an. »Wie ist dein Name?«
»Shahain, edler Herr.«
»Ja, ich wünsche, zum Palast gebracht zu werden. Aber ich bin fremd hier und würde mich gern mit dir oder deinen Freunden ein wenig unterhalten. Ihr als Sänftenträger kommt ja in jeden Winkel und wisst am besten Bescheid. Wäre euch das recht?«
Sie sahen sich an, und Gaidaron sah Verwunderung und Furcht in ihren Gesichtern. »Wir werden beobachtet«, hatte Shahain damals gesagt.
»Wartet ihr vielleicht gerade auf einen Kunden? Dann will ich mich nicht aufdrängen.«
»Oh nein, wir sind gerade frei.«
»Dann lasst uns doch irgendwo hingehen, wo man einen guten Wein trinken kann. Ich lade euch ein. Die Sänfte stellen wir vor der Taverne ab. Sie wird doch sicher nicht gestohlen?«
»Herr …« Gaidaron sah, wie sich der junge Mann wand. »Die Sänfte ist jedermann als königliche Sänfte bekannt. Niemand würde sie stehlen. Aber es wird nicht gern gesehen, wenn wir uns mit unseren Kunden unterhalten.«
»Oh, das wusste ich nicht. Weshalb ist das so? Vergebt mir meine Neugier, aber ich finde das recht seltsam. Ich bin auch bereit, euch einen etwaigen Lohnausfall zu begleichen. Und wenn jemand eine Sänfte will, dann hat er doch genügend Auswahl.«
Shahain sah sich hastig um. Dann flüsterte er: »Ihr habt Glück. Diese Woche haben wir keinen Nachtdienst. Wenn Ihr mit uns reden wollt, dann kommt heute Abend in die Taverne Zum grauen Schwan. Jeder, den ihr fragt, kennt sie. Dort verkehren einfache Leute wie wir, und niemand wird sich an Euch stören, wenn Ihr Euch auf mich beruft, obwohl Ihr ein Fremder seid.«
Gaidaron war einverstanden. Hier konnte er Auskünfte erhalten und nebenbei noch einen netten Abend und vielleicht auch eine amüsante Nacht verbringen. Man würde sehen. Jetzt ließ er sich erst einmal zum Palast zurückbringen und genoss das Schwingen der Sänfte, das
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