Lady Chatterley (German Edition)
solange er ein gesunder Mann ist und seine Intelligenz nicht unter dem Durchschnitt liegt. Gib mir das Kind irgendeines gesunden, normal intelligenten Mannes, und ich werde einen völlig tauglichen Chatterley aus ihm machen. Es ist nicht entscheidend, wer uns zeugt, sondern wo das Schicksal uns hinstellt. Stelle irgendein Kind in die herrschende Klasse, und es wird zu einem Herrscher heranwachsen – innerhalb seiner Wesensgrenzen natürlich. Stelle Königs- und Herzogskinder unter die Masse, und sie werden kleine Plebejer werden, Massenprodukte. Das ist der überwältigende Druck der Umwelt.»
«Dann bildet also das einfache Volk keine eigene Rasse, und die Aristokraten sind nicht von besonderem Blut», sagte sie.
«Nein, mein Kind! Das sind alles romantische Vorstellungen. Aristokratie ist eine Funktion, ein Teil des Schicksals. Und die Massen sind das Fungieren eines anderen Teils des Schicksals. Das Individuum spielt kaum eine Rolle. Die Frage ist, in welche Funktion man hineingestellt und zu welcher man erzogen ist. Nicht die Individuen machen eine Aristokratie aus: sondern das Funktionieren des aristokratischen Ganzen. Und das Funktionieren der großen Masse – das ist es, was den Niedriggeborenen zu dem macht, was er ist.»
«Dann gibt es also kein gemeinsames menschliches Band zwischen uns allen?»
«Das kannst du nehmen, wie du willst. Wir alle müssen unseren Magen füllen. Aber wenn es um befehlende oder ausübende Funktionen geht, glaube ich, ist eine unüberbrückbare Kluft da zwischen den herrschenden und den dienenden Klassen. Diese beiden Funktionen sind einander entgegengesetzt. Und die Funktion bestimmt das Individuum.»
Ganz benommen sah Connie ihn an.
«Willst du nicht weiterfahren?» fragte sie.
Und er setzte den Stuhl in Gang. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Jetzt fiel er in seine sonderbare, leere Apathie, die für Connie so quälend war. Sie war entschlossen, sich wenigstens hier, im Wald, nicht auf einen Disput mit ihm einzulassen.
Vor ihnen zwischen den Haselwänden und den grauen Bäumen zog sich der freie Streifen des breiten Weges hin. Langsam tuckerte der Stuhl, langsam schlingerte er in die Vergißmeinnicht hinein, die sich wie Milchschaum über den Weg breiteten, dort, wo der Haselschatten nicht hinreichte. Clifford fuhr in der Mitte des Weges, wo wandernde Füße einen Pfad durch die Blumen getreten hatten. Doch Connie, die hinter ihm ging, hatte gesehen, wie die Räder über den Waldmeister holperten und über den Günsel und die gelben Becherchen eines Schlingkrauts zerdrückten. Jetzt zogen sie ihre Spur durch die Vergißmeinnicht.
Alle Blumen waren da – die ersten blauen Hyazinthen in blauen Tümpeln, wie stehendes Gewässer.
«Du hast ganz recht damit, daß es schön ist», sagte Clifford. «Es ist erstaunlich. Was ist auch nur annähernd so schön wie ein englischer Frühling!»
Connie dachte, daß es so klang, als blühe selbst der Frühling auf einen Beschluß des Parlaments hin. Ein englischer Frühling! Warum nicht ein irischer? Oder ein jüdischer? Langsam fraß sich der Stuhl vorwärts, vorbei an Büscheln stämmiger kleiner Hyazinthen, die wie Weizenähren dastanden, und über graue Klettenblätter. Dann kamen sie auf den offenen Platz, wo die Bäume gefällt worden waren, und hier flutete das Licht blendend herein. Die Hyazinthen breiteten blauleuchtende Laken aus, hier und da schimmernd in Violett und Purpur. Dazwischen hob der Farn seine braunlockigen Köpfe – gleich Legionen junger Schlangen, die Eva ein neues Geheimnis zuflüstern wollten.
Clifford ließ den Motor laufen, bis er die Kuppe des Hügels erreicht hatte; Connie ging langsam hinter ihm her. Die Eichenknospen falteten sich weich und braun auf. Überall sproß es zärtlich aus der alten Härte. Sogar die knorrigen, knolligen Eichenbäume setzten die feinsten Blättchen an, breiteten durchsichtige kleine braune Flügel gegen das Licht wie junge Fledermausschwingen. Warum hatten die Menschen niemals etwas Neues an sich, etwas Unverbrauchtes, Junges, das sie herauskehren konnten? Schale Menschen!
Oben, auf der Höhe, hielt Clifford den Stuhl an und sah hinab. Die Hyazinthen spülten wie eine blaue Flut über den breiten Weg und überzogen den Hügelhang mit warmleuchtender Bläue.
«An sich ist es eine nette Farbe», sagte Clifford, «aber beim Malen taugt sie nichts.»
«Hm-hm», sagte Connie, völlig uninteressiert.
«Soll ich mich bis zur Quelle wagen?» fragte Clifford.
«Wird
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