Lady Chesterfields Versuchung
hat mir berichtet, dass dein Taillenumfang seit dem letzten Maßnehmen einen Zentimeter zugenommen hat.“
Da ihre Kehle sich anfühlte wie zugeschnürt, erwiderte Hannah nichts. Stattdessen starrte sie auf die Liste. Nie zuvor hatte sie die Anweisungen ihrer Mutter infrage gestellt. Süßigkeiten blieben ihr verwehrt, weil die Marchioness wollte, dass ihre Tochter eine tadellose Figur behielt. Das geschah aus Liebe … oder nicht?
Doch Hannah spürte, wie sie gegen die unsichtbaren Fesseln aufzubegehren begann. Ihre Mutter machte sich Gedanken um ihre Taille, während ihr ganzes weiteres Leben auf dem Spiel stand. War das nicht lächerlich?
Mit jedem Moment, der verstrich, wuchs Hannahs Unbehagen. „Mutter, ich fühle mich wirklich nicht in der Lage, Besuch zu empfangen. Ich würde lieber noch ein paar Tage warten.“ Sie hatte nicht gut geschlafen und die ganze Nacht über ihre ungewisse Zukunft nachgedacht.
„Du tust, was dir gesagt wird, Hannah. Je früher du verheiratet bist, desto eher ist dieser Albtraum beendet.“ Lady Rothburne erhob sich, um ihre Tochter in den Salon zu begleiten. „Du wartest im Empfangszimmer auf Lord Belgrave. Er hat deinem Vater gesagt, dass er um zwei Uhr eintrifft.“
Wahrscheinlich hätte sie ebenso gut mit der Wand sprechen können. Vor ihrem inneren Auge sah Hannah, wie ihre Eltern sie mit einer Kette an die Kirchenbank fesselten, ihr ein Taschentuch in den Mund stopften und es kaum erwarten konnten, dass Belgrave sie endlich vor den Altar zerrte.
Wenigstens blieb ihr noch eine Stunde, ehe die Tortur ihren Anfang nahm. Kurz erwog Hannah zu fliehen, doch vermutlich war Fortlaufen keine gute Idee. Ihre Eltern würden nur noch wütender werden, als sie ohnehin schon waren.
Nein, sie musste sich Belgrave stellen und ihm ins Gesicht sagen, was sie von ihm hielt. Vielleicht würde ihn das dazu bewegen, seine Pläne zu ändern.
Als sie den Salon betrat, stand ihr Vater am Kamin, die Taschenuhr in der Hand. Trauer und Enttäuschung sprachen aus seiner Miene. Er steckte die Uhr in die Westentasche, ging zum Sofa und setzte sich.
Hannah nahm neben ihm Platz und ergriff seine Hand. Mit Aufsässigkeit würde sie bei ihrem Vater nicht weit kommen, doch er mochte es, wenn sie fügsam war.
„Ich weiß, dass du versuchst, mich zu beschützen“, sagte sie sanft. „Und dass du dir einen Ehemann für mich wünschst, der sich um mich kümmert.“
Obwohl er immer noch wütend aussah, nickte der Marquess.
„Aber ich flehe dich an, Papa, zwing mich nicht, Lord Belgrave zu heiraten“, fuhr sie eindringlich fort. „Es macht mir nichts aus, wenn es einen Skandal gibt.“
„Mir aber.“ Ihr Vater drückte ihr die Hand. „Ich lasse nicht zu, dass der Name unserer Familie in den Dreck gezogen wird, weil du in einem entscheidenden Moment dein Urteilsvermögen eingebüßt hast.“
Hannah entzog ihm ihre Hand. „Ich will nicht heiraten“, entgegnete sie fest und stand auf. „Und ganz besonders nicht den Baron of Belgrave.“
„Diesen Michael Thorpe auch nicht. So wahr mir Gott helfe, du wirst nicht die Frau eines Soldaten.“
Der Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen, doch als der Name des Lieutenants fiel, durchlief es sie heiß. Dieser sinnliche Draufgänger würde ihr bestimmt niemals mit der freundlichen Distanz begegnen, die unter Eheleuten üblich war. Nein, sie vermutete vielmehr, dass er zu der Sorte Männer gehörte, die eine Frau besitzen wollten und ihr den Atem raubten, wenn sie sich mit ihr verbotenen Freuden hingaben.
„Natürlich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber wie wäre es“, wagte sie einen neuen Vorstoß, „wenn du mich aus London fortschickst, bis das Gerede aufgehört hat? Wir haben doch Verwandte auf dem Kontinent, wenn ich nicht irre.“
„In Deutschland, ja.“ Seine Lordschaft klang noch immer grimmig, doch Hannah glaubte zu hören, dass er ein wenig milder gestimmt war. Bitte, lieber Gott, mach, dass er mir Belgrave erspart, flehte sie stumm.
In diesem Augenblick klopfte es leise an die Tür, und der Butler trat ein. „Mylord, der Baron of Belgrave ist gekommen, um Lady Hannah seine Aufwartung zu machen.“
Der Marquess zögerte. Unterdessen ballte Hannah ihre Hände so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Flehentlich sah sie ihren Vater an und schüttelte den Kopf.
„Gib ihm eine Chance, Hannah“, sagte ihr Vater leise. „Trotz seines tadelnswerten Verhaltens kommt dieser Mann aus einer hervorragenden Familie.
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