Lady Marys romantisches Abenteuer
zurückfahren. Ich komme mit Ihnen – als Begleitung. Sie werden jede Menge Anstandsdamen haben, damit Ihre Ehre keinen Schaden erleidet. Sie können Ihr Französisch ungemein verbessern und ganz bestimmt ein richtiges Abenteuer erleben.“
Sie starrte zu ihm auf. Die Versuchung war größer, als sie es sich einzugestehen wagte. „Aber wir haben keinen Proviant, kein Essen, kein …“
„Mittag und Abendessen sind im Fahrpreis eingeschlossen“, sagte er. „Und ich garantiere Ihnen, auch diese Verköstigungen werden keinen Mahlzeiten ähneln, die Sie in Kent erhalten würden.“
„Nichts von alledem ist wie in Kent“, meinte Mary lachend. Noch nie hatte sie auch nur im Traum an so etwas Skandalöses gedacht, wie Tag und Nacht zusammen mit einem Mann, den sie kaum kannte, in einer öffentlichen Kutsche zu reisen. Und doch schien es ihr weniger skandalös als, nun, verwegen zu sein.
„Dann kommen Sie mit mir“, bat er. „Seien Sie mutig. Das hier ist Calais, nicht Ihr braves Kent. Niemand kennt Sie hier, keinen kümmert es, was Sie tun. Wann bietet sich Ihnen so eine Gelegenheit noch einmal?“
Immer noch lachend schüttelte sie den Kopf. Was war es nur, dass der lächerlichste Vorschlag, den man ihr je gemacht hatte, aus seinem Mund so schrecklich verlockend klang? Hätte es sich um Diana und einen ihrer Liebhaber gehandelt, Mary wäre entsetzt gewesen.
„Mögen Sie Erdbeeren, Mylady?“, fragte er unvermittelt. Er hob die dunklen Brauen und hielt ihr die zu einer Schale geformten Hände hin, als böte er ihr eine riesige Erdbeere zum Genuss an. „Saftig und süß auf der Zunge, frisch wie der morgendliche Tau im Mund?“
„Wie bitte?“, sagte sie und lachte wieder. Noch nie hatte sie einen Gentleman getroffen, der sie so oft und so herzlich zum Lachen bringen konnte. Wer hätte geahnt, dass sie, die vernünftige Mary, auch einen solchen Vorrat an Lachen in sich trug? „Wieso um alles in der Welt fragen Sie mich jetzt nach Erdbeeren?“
Er trat hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie sanft zu der Diligence um. „Weil dort gerade eine stämmige französische Bäuerin, einen Korb voller Erdbeeren in jeder Hand, vom Dach herunterklettert.“
Auch als er keinen Grund mehr hatte, seine Hände auf ihren Schultern zu lassen, nahm er sie nicht fort. Sie fühlten sich warm an. Mary empfand ihr Gewicht als angenehm, so, als würden sie auf seltsame Art dorthin gehören.
Sie drehte den Kopf, um John anzublicken. „Ich mag Erdbeeren, Lord John“, sagte sie und stellte entzückt fest, dass seine Augen vom gleichen Blau waren wie der Junihimmel über ihnen beiden.
Er zwinkerte – zwinkerte! – ihr zu und gab ihren Schultern einen zärtlichen Klaps, bevor er auf die Bauersfrau mit den Erdbeeren zulief. Sein dunkles Haar wehte in der leichten Brise.
Hätte er eben versucht, sie zu küssen, sie hätte ihn wiedergeküsst. Die Erkenntnis verwirrte sie. Noch atemberaubender war, wenn er gleich mit den Erdbeeren zurückkehrte, konnte er sie immer noch küssen – und sie ihn.
„Lady Mary!“
Stirnrunzelnd blickte sie sich um. Sie wusste nicht, wer sie beim Namen rufen konnte. Hatte Lord John sie nicht gerade daran erinnert, dass sie eine Fremde in Calais war?
„Lady Mary, hier!“ Halb verdeckt von einer Pyramide aufgestapelter Fässer, stand der Ladenbesitzer Dumont im Schatten einer Gasse neben dem Gasthaus. Er trug einen alten Schlapphut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Aufgeregt blickte er nach rechts und links, um sicherzugehen, dass niemand auf ihn aufmerksam geworden war, und winkte Mary dann zu sich.
„Wenn Sie so freundlich sein wollen, Mylady, wenn Sie so freundlich sein wollen!“, rief er mit ängstlich zitternder Stimme. „Ich muss dringend mit Ihnen sprechen!“
„Worüber, Monsieur?“ Sie zögerte, denn selbst mitten am Tag mochte sie sich nicht weit von dem geschäftigen Treiben am Eingang des Gasthofes entfernen. „Wieso wollen Sie mich sprechen?“
„Das Bild, Mylady!“ Wieder winkte er sie zu sich. „Der Engel! Haben Sie ihn noch?“
Mary machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, nicht mehr. Rasch warf sie einen Blick über die Schulter. Wo blieb nur Lord John? „Natürlich habe ich das Bild noch. Ich kaufte es doch erst gestern von Ihnen.“
„Hat irgendjemand Sie danach gefragt, Mylady?“, erkundigte er sich eindringlich. „Weiß irgendjemand, dass es in Ihrem Besitz ist?“
„Nur die Mitglieder meiner Reisegesellschaft“,
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