Lady Marys romantisches Abenteuer
sich zu behalten. Vorläufig lag das Bild, in ein altes Tuch eingewickelt, tief unten in dem Weidenkorb, in dem sie ihren Reiseproviant mit sich führten.
Miss Wood nickte. „Es ist klug, sich um sein Hab und Gut zu kümmern, doch ich muss sagen, ich bezweifle, dass irgendein Dieb sich für so ein Bild interessieren würde.“
„Das Gemälde mag nicht dem modernen Geschmack entsprechen, doch ich versichere Ihnen, es ist von großem Wert.“ Auch wenn er zu Miss Wood sprach, kam es Mary vor, als würde sein Lächeln nur ihr gelten. „Es war mir immer wichtig, mich um das zu kümmern, was mir kostbar und das Liebste war.“
Überwältigt senkte Mary den Kopf. Es kam selten vor, dass sie um Worte verlegen war. Doch plötzlich fiel ihr kein einziges ein, das ausdrückte, was sie empfand. Mit diesen Worten hatte er angedeutet, dass er ihr gefolgt war und sie wie der Held in einem Roman gerettet hatte. Sie selbst war mutig gewesen, und jetzt war sie auf gewisse Art dafür belohnt worden. Was für ein schöneres Abenteuer hätte sie sich wünschen können?
„Wie wunderbar, dass wir Ihnen so teuer sind, werter Herr!“, sagte Diana hinter ihr. „Und wie soll ich Ihnen jemals genug danken für all das, was Sie für uns getan haben?“
Dianas Stimme war samtweich. Es war die Stimme, mit der sie meistens zu Männern zu sprechen pflegte. Mary musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass ihre Schwester all ihre üblichen Tricks einsetzte. Sicher stand sie jetzt lässig da, den Arm angewinkelt unter den Busen gelegt, um die Brüste noch höher über den Rand des Korsetts zu schieben. Und mit der anderen Hand würde sie mit der goldblonden Locke spielen, die über eine ihrer Schultern fiel. Mit Diana war es immer das Gleiche, und auch die Wirkung ihres Verhaltens auf die Männer war immer die gleiche. Was blieb ihnen denn auch anderes übrig?
Zu Marys Kummer, wenn auch nicht zu ihrer Überraschung, schloss das auch Lord John ein. Er straffte die Schultern und strahlte. Als würde Mary gar nicht mehr existieren, hatte er nur noch Augen für Diana.
„Ihr Lächeln ist Dank genug“, gab er zurück. „Kein Gentleman würde mehr erwarten.“
„Erwartungen haben nichts mit dem zu tun, was ein Gentleman verdient“,erwiderte Diana mit einer Stimme, die voller Versprechungen war. „Wer sagt da bloß, dass es heutzutage in England keine tapferen Männer mehr gäbe?“
„Solange Damen bedroht werden“,sagte er so entsetzlich edelmütig, dass es Mary den Magen zusammenzog, „solange wird es auch tapfere Männer geben, die ihre Ehre verteidigen.“
„Was für ein Glück für mich“, meinte Diana. „Bitte, Mary, stell mich doch diesem Helden vor.“
Mary seufzte. Aber pflichtbewusst, wie schon ihr ganzes Leben lang, tat sie, was von ihr verlangt wurde. „Diana, Lord John Fitzgerald“, sagte sie leise. „Lord John, meine Schwester Lady Diana Farren.“
5. KAPITEL
John konnte sich nicht erinnern, dass er je ein so langes Dinner hatte durchstehen müssen.
Weil er rechtzeitig auf der Straße erschienen und die Räuber vertrieben hatte, war er zum Helden ernannt und zum Essen eingeladen worden. Das Hühnerfrikassee stellte sich als besser heraus, als er es bei einem Landgasthof an der Straße nach Paris hatte erwarten dürfen. Und dazu gab es weit schmackhaftere Weine, als man an den meisten Tafeln des Grosvenor Square servierte. Auch war der private Salon mit seinen zwei großen Doppeltüren und den weit geöffneten Fenstern, die die sommerliche Nachtluft hereinließen, wirklich behaglich.
An seiner Tischgesellschaft war ebenfalls kaum etwas auszusetzen. Die Gouvernante war eben wie alle Gouvernanten dieser Welt. Eine rundliche kleine Frau, die sehr dazu neigte, die schmalen Lippen zu schürzen und moralische Bemerkungen zur Konversation beizutragen.
Doch die beiden anderen Damen, die, auf welche die Gouvernante aufpassen sollte, fielen völlig aus dem Rahmen. Lady Diana war eines der verführerischsten Wesen, denen er je begegnet war, mit goldblondem Haar, großen blauen Augen und der Art von üppiger Figur, wie sie Maler für Aphrodite wählten. Doch so schön Diana auch war, was John auffiel – und jedem anderen Mann auf Gottes Erdboden wahrscheinlich auch –, war ihr Benehmen. Die Schmeicheleien, versteckten Andeutungen, diese auffällige Liebenswürdigkeit, all das schien ihr zur zweiten Natur zu werden, sobald sie mit einem Mann sprach. Und während solche mühelosen Verführungskünste bei einer
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