Lady Marys romantisches Abenteuer
dieser Weise über ihre Schwester, um seine besondere Achtung für sie selbst auszudrücken. Nur übersah er dabei die Verbundenheit, die sie und ihre Schwester füreinander empfanden. War es also ein Wunder, dass sie in ihrer Verwirrung so reagiert hatte? Und war es dann ein Wunder, dass er ihr Adieu so leicht als die endgültig letzten Worte zwischen ihnen akzeptiert hatte?
„Letzte Nacht bist du aber spät wiedergekommen“, flüsterte Diana. „Ich habe schon lange geschlafen, bevor du kamst. Du und dieser Lord John müsst in dem dummen Bild ja eine Menge Gesprächsstoff entdeckt haben.“
„Du hast geschlafen und geschnarcht.“ Mary rutschte zum Bettrand und griff unters Bett. Blind tastete sie herum, bis sie das vertraute Paket fühlte, das sie gestern Nacht noch zwischen den Seilen der Bettfederung versteckt hatte.
„Was machst du da?“, fragte Diana und stützte den Kopf auf den Arm. „Unter dem Bett nach versteckten Liebhabern suchen?“
„Nur nach denen, die du dort versteckt hast.“ Mary setzte sich auf und schwang die nackten Beine über den Bettrand. „Wie viel Uhr ist es, Miss Wood?“
„Halb acht, Mylady.“ Die Gouvernante nahm das Frühstückstablett vom Tisch und stellte es mitten aufs Bett. Hinter ihr hatte ihre Zofe die Schrankkoffer geöffnet und bereitete den Aufbruch vor, indem sie die Kleider, Strümpfe und Bänder, die sie gestern getragen hatten, hineinräumte. „Höchste Zeit für Sie beide zu frühstücken und sich anzuziehen, damit wir uns auf den Weg machen können.“
„Ich bin nicht so hungrig.“ Mary goss sich Tee mit einem Spritzer Milch in eine Schale und glitt vom Bett. „Ich bin gleich angezogen.“
Mit ihrer Teeschale in der Hand ging sie barfüßig zum Fenster. Es war ein schöner Tag. Dicke Hummeln brummten träge um die roten, trompetenförmigen Blüten des Schlinggewächses, das sich an der Ziegelwand des Gasthofes hinaufrankte. Mary lehnte sich ein wenig weiter aus dem Fenster und sah in den Hof hinab. Die Reitknechte waren dabei, sich um ihre Kutsche zu kümmern, und polierten gerade die dunkelblau lackierten Seitenwände. Besonders mit dem herzoglichen Wappen ihres Vaters, das golden auf der Tür prangte, gaben sie sich große Mühe.
Mary hatte noch nie darüber nachgedacht, was das Wappen symbolisierte. Es war einfach immer da gewesen, bereit, ihrer Familie den Weg zu erleichtern und sie mit Privilegien zu versehen, wohin sie sich auch immer in seinem Schutz begaben. Konnte dieses Wappen hier in Frankreich wirklich so machtlos sein, wie Lord John letzte Nacht behauptet hatte? Waren sie und ihre Schwester hier wirklich so verwundbar? Waren sie eine reife Beute für jeden Dieb und Hochstapler, ja selbst für ihren eigenen Fremdenführer?
„Treten Sie sofort von dem Fenster zurück, Lady Mary“, schimpfte Miss Wood. „Es ziemt sich wohl kaum, dass Sie sich in Ihrem Nachthemd derart zur Schau stellen.“
„Vielleicht möchte Mary sich zur Schau stellen.“ Diana lächelte ihrer Schwester verschmitzt zu. „Vielleicht hofft sie, dass Lord John unten steht und verzückt zu ihr aufschaut, gerade so wie in ‚Romeo und Julia‘.“
Mary schnappte empört und auch ein wenig schuldbewusst nach Luft. Doch Miss Wood eilte sofort zu ihrer Verteidigung herbei.
„Das ist weder nett von Ihnen noch ist es wahr, Lady Diana“, sagte sie streng. „Ihre Schwester hat sich Herren gegenüber immer untadelig verhalten. Anstatt sie wegen Seiner Lordschaft zu necken, sollten Sie sich lieber an ihrem Benehmen ein Beispiel nehmen.“
Diana zuckte ungerührt die Schultern.
„Was Seine Lordschaft betrifft, sollte Mary sich vielleicht besser doch ein Beispiel an mir nehmen“, erwiderte sie und griff nach einer Brioche. „Vielleicht hat sie es ja bereits.“
„Als ob ich von dir Unterricht erhalten müsste, Diana“, protestierte Mary, obwohl sich ihre Wangen röteten. Ganz gleich, was für Sünden Diana auch begangen haben mochte, nie würde sie einen Mann geküsst und ihm danach wie eine Rachegöttin eine Strafpredigt gehalten haben. „Besser, ich denke gar nicht erst daran, was du mich wohl lehren würdest.“
„Genau das, was du lernen musst“, entgegnete Diana und biss in ihre Brioche.„Deswegen hat Vater mich ja mitgeschickt, weißt du. Also, hat Lord John dich jetzt letzte Nacht im Mondschein geküsst, Mary, oder hast du ihn geküsst?“
„Als ob ich dir das erzählen würde, Diana.“Voller Entrüstung stellte Mary klirrend ihre Teeschale auf das
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