Lady Marys romantisches Abenteuer
beraubt. Sein Herz raste. Er sehnte sich nach Erlösung, die er nun nicht mehr finden würde. Da stand sie vor ihm, und ihre Schönheit erschien ihm gerade wegen ihrer Niedergeschlagenheit, wegen ihrer Verweigerung, ja selbst wegen ihrer Rechtfertigungen umso verlockender. Nie hatte er eine Frau, irgendeine Frau, mehr begehrt als in diesem Augenblick Mary Farren. Aber verdammt, sie hatte ja recht: Er würde sie nicht gegen ihren Willen nehmen. Dafür achtete er sie inzwischen viel zu sehr. Sie war die Tochter eines Dukes und hatte das Recht, selbst zu entscheiden, wie und wann sie ihre Unschuld verlor. Und er konnte es ihr nicht übel nehmen, dass dies nicht mit einem verarmten irischen Lord in einem Gasthof in Chantilly geschehen sollte.
Sie trat zu ihm und küsste ihn zum Abschied. Ihre Lippen streiften kaum die seinen. „Sollten Sie morgen nicht mit uns nach Paris fahren, werde ich es verstehen und eine gute Entschuldigung für Sie finden. Ich werde es verstehen, aber ich werde nicht vergessen. Gute Nacht, Mylord, und Gott segne und beschütze Sie.“
Sie nahm das Gemälde vom Stuhl, schlüpfte durch die Tür und war fort. Da er sie gehen ließ, war er entweder ein viel größerer Gentleman, als er je gewusst, oder ein viel größerer Narr, als er jemals befürchtet hatte.
D’Archambault saß in dem hochlehnigen Stuhl am offenen Fenster und erlaubte sich die beträchtliche Freude eines Glases Burgunder zu seinem Abendbrot, einer klaren Suppe. Schon seit langem hatten die Ärzte ihm Wein und sonstige geistige Getränke verboten. Doch heute fühlte er sich so erholt, dass er eigenmächtig anders entschied. Er hatte eine Spazierfahrt in seiner Kutsche gemacht und alte Bekannte gegrüßt, die ihn offenbar schon längst aufgegeben und für tot erklärt hatten. Schließlich hatte er sich sogar kurz zu seinem alten Zufluchtsort, dem Salon der Madame du Fontenelle, fahren lassen, um zu lauschen, wie man seine Gedichte las, und zu erleben, wie sich Lobpreisungen über ihn ergossen – als ob solche Schmeicheleien heute noch irgendeine Bedeutung für ihn besäßen.
Er vermochte nicht zu sagen, was die Veränderung bewirkt hatte. War es dieser strahlende Sommertag gewesen, der ihn besser wärmte als jedes Feuer? Oder der Geschmack des Weines auf seiner Zunge? Oder der Brief, der letzte Nacht angekommen war? Er vermutete, dass es der Brief war, denn die Nachricht, die er enthielt, war wirklich aufmunternd gewesen.
Das verlorene Gemälde seines Madonnen-Triptychons war gefunden worden. Natürlich würde er nicht rasten, bis diese letzte Tafel an ihrem Platz neben den anderen beiden hing. Jetzt wusste er immerhin, dass sie noch existierte. Wunderbarerweise hatte auch sie die Jahrhunderte überlebt. Nach der Katastrophe in Calais hatte d’Archambault einen anderen Kundschafter engagiert. Einen, der besonders für seine Schlauheit und seine List bekannt war.
Rasch hatte der Mann herausbekommen, dass das Gemälde von einer jungen Engländerin gekauft worden war. Er hatte mit Bediensteten der Gasthöfe gesprochen, in denen die Dame logierte, die das Bild in den Armen der jungen Dame beschreiben konnten. Er hatte sogar von einem Diener des Château de Chantilly erfahren, dass die junge Dame ein anderes Triptychon des Fra Pacifico besichtigt und als das Zwillingsstück jenes erkannt hatte, das sich in ihrem Besitz befand.
Allerdings waren die Berichte des Spähers doch nicht ganz zu d’Archambaults Zufriedenheit ausgefallen. Drei Mal, auf drei verschiedene Arten, hatte der Mann versucht, des Gemäldes habhaft zu werden. Ohne Erfolg. Die Dame hatte sich als äußerst einfallsreich erwiesen. Und ein Herr, der zur Reisegesellschaft der jungen Dame gehörte, stand ihr hilfreich zur Seite.
Aber alldem brauchte er keine zu große Beachtung zu schenken, denn das Gemälde und die Dame würden beide nach Paris kommen. Gut möglich, dass sie schon hier waren, und als stummen Begrüßungstoast hob d’Archambault sein Glas zum offenen Fenster hin. So oder so, jetzt würde er das Bild von ihr bekommen. Sein Kundschafter hatte ihm berichtet, die Dame sei sehr jung und sehr schön.
Er drehte sich in seinem Stuhl um, damit er die beiden Teile des Triptychons sehen konnte, die schon in seinem Besitz waren. Sonnenlicht fiel schräg auf die Wand und ließ den Mantel der Gottesmutter leuchten. Das hier war wahre Schönheit, die Schönheit des Glaubens und der Barmherzigkeit. Er konnte kaum erwarten, die dritte Holztafel an ihrem Platz zu
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