Lady Marys romantisches Abenteuer
Kenntnis. Für seine Entdeckung und sichere Rück kehr zahlte er zweihundert Goldstücke, eine große Summe, die den Wert des Bildes weit übersteigt.
Das musste das Gegenstück zu Marys Engel sein, eine der anderen Tafeln des Triptychons. Etwas anderes konnte es nicht sein, nicht vom selben Künstler. Doch wenn dieser Adlige so schnell bereit gewesen war, solch einen Preis zu bezahlen, war er dann vielleicht auch fähig zu morden, um die andere Tafel in seinen Besitz zu bekommen? War das der Mann, der hinter den Versuchen stand, Marys Engel zu stehlen? John hatte sich eingeredet, er hätte Mary aufgegeben. Und dass er es auch aufgegeben hätte, weiterhin dem Bild hinterherzujagen. Das schien die richtige, vernünftige Entscheidung zu sein.
Aber was, wenn er Mary gerade in dem Augenblick verlassen hatte, in dem sie ihn am meisten brauchte?
„Mylord, ich kann das Postschiff sehen. Es läuft gerade in den Hafen ein“, rief der Angestellte. „Innerhalb der nächsten Stunde sollte der Hafenmeister die Reiseinstruktionen weitergegeben haben.“
„Zum Teufel mit seinen Instruktionen“,sagte John und steckte die Zeitung in seinen Rock. „Ich muss augenblicklich nach Paris.“
Mary saß auf einem Faltstuhl in der langen Galerie des Palais du Luxembourg. Es waren nur wenige andere Leute da, die an diesem Morgen die Sammlung besuchten. Ihre Schritte hallten in den großen, leeren Sälen. Weiter unten in der Galerie saß Miss Wood auf einer Bank vor einer Statue des Jupiters, während in der anderen Richtung Diana mehr damit beschäftigt schien, durch das nächste Fenster in die Gärten zu schauen, statt sich an den Ausstellungsstücken zu erfreuen.
Doch Mary war entschlossen, ihr Kunstverständnis zu erweitern. Deswegen hatte sie schließlich unbedingt ins Ausland fahren wollen, oder nicht? Einen übergroßen Skizzenblock auf dem Schoß, skizzierte sie die große Marmorstatue der Göttin Artemis mitsamt dem Hirsch, der vor ihr stand. Gewissenhaft bewegte sie ihren Bleistift über das Blatt, denn Miss Wood hatte ihr nachdrücklich empfohlen, Statuen und andere Kunstobjekte zu zeichnen. Und zwar nicht nur, um dadurch ihre Studien voranzutreiben, sondern auch, um die Skizzen in einer Mappe zu sammeln und sie zu Hause in Kent ihrem Vater und den Nachbarn zu zeigen.
Mary seufzte leise und machte eine kleine Pause, um ihre Zeichnung zu betrachten. Zu Hause hatte sie immer recht gute Aquarelle von Feldern, Flüssen und Wäldern gemalt. Doch Artemis entpuppte sich an diesem Morgen als eine weit größere Herausforderung als verkrüppelte Eichen und Kühe in der Ferne.
Sie hatte zuerst den Kopf gezeichnet und fand, dass ihr der Schwung des Profils eigentlich ziemlich gut gelungen war. Doch dann hatte sie Schwierigkeiten gehabt, den Kopf auf die richtige Weise mit dem Körper zu verbinden. Sie verpasste dem Hals der armen Jagdgöttin solch einen eigentümlichen Knick, dass das Bogenschießen für sie eine wirkliche Herausforderung sein würde.
„Nun, Mylady, das ist gut!“, rief Miss Wood, die hinter sie getreten war. Sie hatte die weißen Manschetten ihrer Ärmel umgeschlagen, damit sie nicht durch Stifte und Malkreide beschmutzt würden. „Vergessen Sie bitte nicht, unten den Namen der Statue und das Datum hinzuschreiben. So werden Sie sich immer daran erinnern können, wann Sie die Skizze zeichneten.“
„Ich weiß nicht, ob es der Mühe wert ist, sich daran zu erinnern“, sagte Mary. „Schauen Sie sich meine arme Artemis an, Miss Wood! Ihre Arme sind zu lang und ihre Beine zu kurz. Und ihr Bogen und Köcher sind klein genug, um zu Cupido zu passen, statt zu einer Jägerin.“
„Seien Sie nicht zu kritisch zu sich selbst, Lady Mary“, antwortete Miss Wood freundlich. „Es ist erst Ihr zweiter Tag in der Galerie. Wir alle müssen unseren Blick darin üben, das zu sehen, was vor uns ist, und uns nicht durch leere Zerstreuungen davon ablenken lassen.“
Zerstreuung. Oh ja, dachte Mary bedrückt. Das war ein passendes Wort; sie war in der Tat sehr zerstreut dieser Tage. Aber es war nicht Paris, das sie in seinen Bann zog, auch wenn die Stadt so vieles zu bieten hatte. Noch nie hatte sie einen solchen Ort gesehen, voll wunderbarer Häuser, Kirchen, Paläste und anderer öffentlicher Gebäude und schöner Brücken, die sich über die Seine wölbten. Vor drei Tagen hatten sie sich im „Hotel d’Imperatrice“ in der Rue Jakob einquartiert. Es war eine gute Unterkunft, in der man an Gäste der englischen
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