Lady Marys romantisches Abenteuer
sehen. Ein Engel, hatte der Späher gesagt. Ein Engel, dem in Chantilly sehr ähnlich. Und d’Archambault versuchte sich vorzustellen, wie das wieder vereinte Triptychon an seiner Wand aussehen würde. Am Ende hatte er sein Versprechen gegenüber der Heiligen Jungfrau doch gehalten. Mit ihrer wiederhergestellten Glorie konnte er in Frieden sterben.
Die Sonne stand nun tiefer am Horizont, und die zuvor so warme Luft fühlte sich kühl an auf seinen Schultern. Er klingelte nach seinem Diener, damit der das Fenster schloss, und schob sich steifgliedrig langsam aus dem Stuhl. Es war ihm unmöglich, aufrecht zu stehen, wenn der Schmerz ihn mit solch plötzlicher, atemberaubender Heftigkeit quälte.
„Sei meiner unglücklichen Seele gnädig, Heilige Mutter“, betete er, den Mund verzogen vor Pein. „Bald werde ich in deine Umarmung kommen, aber noch nicht jetzt. Bitte, Gott, nicht schon jetzt.“
10. KAPITEL
In der Geschäftsstelle wandte sich der Angestellte betrübt um, als er John schon wieder auf seinen vergitterten Schalter zukommen sah.
„Es tut mir wirklich sehr leid, Mylord“, begann er, noch bevor John den Schalter erreicht hatte. Er seufzte kummervoll. „Aber Gezeiten und Wind richten sich nicht nach den Menschen, Mylord. So war es seit jeher, und so wird es sein bis ans Ende aller Tage.“
Doch John hatte diese spezielle Predigt schon zweimal gehört, und er hatte keine Lust, sie noch einmal zu hören. „Guter Mann, ich will nur wissen, wann ich an Bord des Postschiffs nach Dover gehen kann, sonst nichts.“
„Innerhalb der nächsten Stunde wird das Boot mit der Post auslaufen, Mylord, und versuchen, das Postschiff zu erreichen“, sagte der Angestellte. „Doch das wird eine schwierige Überfahrt mit rauer See und ohne Garantie auf Erfolg. Besser, Sie warten hier, Mylord, und machen es sich gemütlich, bis die Gezeiten sich am Nachmittag ändern und das Postschiff in den Hafen einlaufen kann.“
Besser erschien John hier jedoch ziemlich relativ. Es war in der Tat besser, hier an der Küste zu warten, statt sich mit der Post in einem offenen Boot nach draußen zu wagen, sich von der Gischt durchweichen zu lassen und sein Überleben von der Kraft der Männer an den Rudern abhängig zu machen. Besser er blieb hier in der Geschäftsstelle, wie der Angestellte es vorschlug. Langeweile war dem Ertrinken doch vorzuziehen.
Doch war es besser, in Calais zu bleiben, im selben Land mit der einzigen Frau, die er je wirklich hatte haben wollen, mit Körper, Seele und Geist, die im Gegenzug ihn aber nicht wollte? Wollte er nicht unbedingt ihr und ihrem scheußlichen Gemälde für immer den Rücken kehren? War es besser, in diesem stickigen kleinen Raum zu sitzen und darüber nachzudenken, wie schlimm er sich in diese Geschichte mit Mary Farren verrannt hatte, oder sollte er sich in die rauen Wellen Richtung London stürzen und in die Gewissheit, dass sein altes Leben, sein Leben vor Mary, völlig aus den Fugen geraten war?
Oh Gott, mit diesem andauernden Abwägen von besser und am besten hörte er sich langsam wie ein drittklassiger Hamlet-Darsteller an. Er warf einen Blick durchs Fenster auf den Hafen. Das Wasser war aufgewühlt, die Wellen peitschten und trugen kleine Schaumkronen. Nun, es war wirklich viel besser zu leben, statt zu ertrinken. Mit einem gemurmelten Fluch wandte er sich ab, ging zu einer der Bänke im Warteraum und setzte sich.
Nahe den Bänken stand ein etwas schiefes Regal, auf dem sich Monate alte Zeitungen häuften. Sie sollten den wartenden Passagieren als Zeitvertreib dienen. Auf der Suche nach etwas Ablenkung durchstöberte John die Stapel. Doch gerade als er den ganzen schmuddeligen Packen wieder ins Regal zurückschieben wollte, fiel sein Blick auf einen kurzen Artikel, der seine Aufmerksamkeit weckte.
Ein Verkauf von historischer Bedeutung
Als vor Kurzem der Nachlass von Mme. Germaine durch ih ren Neffen, M. Paul Germaine, auf einer Aktion versteigert wurde, wurde ein verborgener Schatz entdeckt und verkauft. Ein italienisches Bild, das eine Gruppe kniender Betender zeigt, stellte sich als das seltene Gemälde eines Mönchs aus Florenz heraus, der unter dem Namen Fra Pacifico bekannt ist. Obwohl schmutzig und in schlechtem Zustand, wurde der wahre Wert des Bildes vom Agenten eines hochadligen Herrn aus Paris erkannt, dessen italienische Vorfahren hier porträtiert seien. Lange hatte man das Gemälde verloren ge glaubt. Seine Wiederentdeckung nahm der Adlige mit Freu den zur
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