Ladylike
ich mich trotz allem auf Ewalds Besuch und überlege bereits im Halbschlaf, was ich übermorgen anziehen werde.
Am nächsten Tag erreichen wir nach stundenlanger Fahrt glücklich die Insel. Obwohl Anneliese den Norden angeblich nicht mag, freut sie sich über die prickelnde Luft, den weiten Himmel, die klaren Farben und vor allem den Sonnenschein, der uns nach zwei verregneten Tagen begrüßt. Zum Mittagessen kommen wir zu spät, zum Abendessen zu früh. Die freundliche Chefin schickt uns einen Kellner mit gebutterten Vollkornschnitten und frischen Krabben in den Garten, und es schmeckt wunderbar unter freiem Himmel. Danach wandern wir ans Meer, denn ich bin gespannt, ob alles noch so aussieht wie vor vielen Jahren. Moritz und Ricarda streben Hand in Hand in die entgegengesetzte Richtung, sie wollen am Wattenmeer Vögel beobachten. Anneliese grinst etwas anzüglich. Erst als wir allein sind, komme ich endlich dazu, ihr von Rudis Entdeckung auf der Fahndungsseite der Kripo zu berichten. Es scheint sie wenig zu beeindrucken.
»Nackt-bade-strand«, buchstabiert sie kurz darauf erschrocken und sieht mich fragend an, »aber wo stecken sie denn, die Nackedeis?«
Die meisten gertenschlanken Frauen tragen einteilige Badeanzüge, ihre Freunde Bermudas, stellen wir fest.
»Vielleicht ist es zu kühl«, meine ich, denn ich friere sogar in langen Hosen und meiner roten Wolljacke. Einen so stürmischen Wind habe ich seit vielen Jahren nicht mehr erlebt.
Plötzlich stößt mich Anneliese an. »Unerhört!« flüstert sie, und auch mir fallen die Augen fast aus dem Kopf.
Ein Paar kommt uns entgegen, das uns im Alter in nichts nachsteht. Der Mann, in weißen Hosen und einem blauen Kaschmirpullover, trägt seine Schuhe in der Hand und hat den Arm um die Schulter seiner Partnerin gelegt. Diese Frau ist splitterfasernackt. Völlig unbefangen gehen sie, leise miteinander plaudernd, am Strand spazieren.
Anneliese wird richtig rot vor Erregung, bleibt stehen und gafft den beiden hinterher wie die letzte Landpomeranze. »Wie findest du das?« fragt sie mich atemlos, als die Fata Morgana endlich außer Sicht ist. »Schamlos, oder?«
»Wie einen seltsamen Film! Und sehr mutig«, sage ich und grüble. Über den gepflegten, braungebrannten Mann muß ich nicht weiter nachdenken, von Ewalds Sorte treiben sich hier viele herum. Es ist höchstens verwunderlich, daß er offenbar mit der eigenen Gattin den Urlaub verbringt. Aber diese Frau mit schlaffen Brüsten, dem leicht heraustretenden Bauch und den tiefen Quetschfalten im Unterleib, der spärlich behaarten Scham und den gutgeschnittenen Gesichtszügen gibt mir Rätsel auf. Wenn sie nicht erbarmungslos auf Fitness gesetzt haben, sehen viele hüllenlose Siebzigerinnen – und auch wir – nicht viel anders aus.
»Ich kann es mir nur so erklären«, sagt Anneliese nach einiger Zeit, »ihm ist genauso kalt wie mir, aber sie ist abgehärtet. Würdest du …?«
»Niemals«, sage ich und denke daran, wie ich mich 1960 als straffe junge Frau bereits schwertat, unbekleidet mit Udo in der einsamen Dünenlandschaft zu liegen.
»Was sollen wir machen, wenn Ewald im Adamskostüm mit uns baden gehen will?« fragt Anneliese.
Ich muß kichern. »Bei diesem kühlen Wind ist es kaum zu befürchten«, sage ich. »Von mir aus kann er sich aber gern den Tod holen, deswegen brauchen wir nicht denselben Unsinn zu machen!«
Später trennen wir uns. Anneliese geht aufs Zimmer. Sie will sich vor dem Abendessen noch ein wenig ausruhen. Ich entdecke ein windgeschütztes Plätzchen in einem verlassenen Strandkorb, von wo ich ohne jegliche Euphorie aufs aufgewühlte Meer schaue; schon immer waren mir hohe Wellen ein bißchen suspekt. Fast neben mir sitzen zwei junge Männer im perfekten Freizeitlook, aber wie gewohnt nimmt man mich nicht wahr. In weinerlichem Tonfall behauptet der eine: »Der Fun-Faktor ist hier einmalig«, und sein Freund antwortet gelangweilt: »In der Tat, es geht doch nichts über das Sylter Beach Feeling.«
Da mir die beiden mit ihrem Gelaber auf den Geist gehen, suche ich mir nicht allzuweit vom Hotel eine weiche Kuhle in der sandigen Heide und prüfe ein paar Hagebutten auf ihren Reifezustand. Anneliese würde sofort Marmelade daraus machen. Aber nun höre ich Stimmen aus direkter Nähe, die mir vertraut vorkommen.
Moritz meint: »Ist das nicht super hier! So einen Job kriegt man nur einmal im Leben. Sylt ist die größte deutsche Nordseeinsel und sicher auch die teuerste. Scheint
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