Längst vergangen: Thriller (German Edition)
Moment stumm an, dann setzt sich der Aufzug in Bewegung, und ich sehe weg.
Langsam geht es abwärts.
Plötzlich werden meine Beine weich.
Ich lehne mich an die Wand des Aufzugs und beäuge die Streifen von getrockneter Farbe auf dem Fußboden. Ein winziges Stimmchen in meinem Kopf schreit mir zu, das sei ein Fehler, ich solle wieder hoch, in meinen Wagen und nach Hause fahren. Es befiehlt mir, alles hier zu vergessen und mein Leben neu zu ordnen, bevor es zu spät ist.
Doch ich weiß, dass es bereits zu spät ist.
Kevin sagt nichts weiter, und ich bin froh. Ich habe keine Lust mehr, zu reden.
Vielmehr lausche ich dem Summen des Motors und spüre, wie ich falle.
Zwei Männer warten vor dem Lift, als er anhält. Beide tragen Handfeuerwaffen in Schulterholstern. Keiner von ihnen sagt ein Wort, als Kevin die Tür aufschiebt und wir hinaustreten.
Der Keller ist groß und vollgestopft mit Möbeln und Umzugskartons. In der Ecke steht ein Schreibtisch mit einem Bildschirm, der das Innere des Aufzugs zeigt.
Die Luft ist schwer und feucht.
Ich lasse meinen Blick schweifen. »Wo sind sie?«
Kevin geht zum Schreibtisch und nimmt einen Schlüsselring vom Monitor. Er bedeutet mir, ihm zu folgen, und führt mich um einen Stapel Versandpaletten herum zu einer langen Metalltür. Er schließt sie auf und schiebt sie zur Seite. Die Tür kratzt beim Öffnen an einer rostigen Schiene in der Decke.
Ich trete näher, und der Geruch überrollt mich in Wellen, warm und beißend, eine immer stärker als die vorige.
Blut, Kotze und Pisse.
Ich huste und halte mir eine Hand vor den Mund.
Kevin sieht das, sagt aber kein Wort.
Ich räuspere mich und gehe auf die offene Tür zu. Der Geruch wird mit jedem Schritt stärker, aber diesmal bin ich vorbereitet.
Bis auf zwei Lichtstrahlen, die aus einem Paar Industrie-Sicherheitslampen an der Decke fallen, ist der Raum dunkel. Im Lichtkegel sitzt ein Mann an einem Tisch mitten im Zimmer. Alles sonst ist im Schatten.
Der Mann am Tisch sitzt mit dem Rücken zur Tür, sein Kopf hängt schlaff zur Seite. Ich nähere mich und bemerke die dicken Lederriemen um seine Schultern und Arme, die ihn an den Stuhl fesseln.
Auf dem Fußboden unter ihm hat sich eine Blutlache gebildet. Das Blut fließt in langen Bächen auf einen im Boden versunkenen Abfluss ganz in der Nähe. Unmittelbar hinter dem Abfluss kann ich den Schatten des dunklen, offenen Verbrennungsofens sehen.
Ich versuche, nicht hinzusehen.
»Ist er wach?«, frage ich.
»Kann sein.«
Es ist heiß im Raum, und ich spüre, wie mir langsam der Schweiß über den Rücken rinnt. Aus Angst, mich nicht mehr zu bewegen, verlagere ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann steuere ich den Mann am Tisch an.
Auf halbem Weg sehe ich den Kleinen mit über den Kopf gestreckten Armen in der Ecke sitzen. Seine Handgelenke sind mit Draht gefesselt und werden von einer Gliederkette hochgehalten, die in den Schatten über ihm verschwindet. Seine linke Gesichtshälfte ist malträtiert. Das Auge ist zugeschwollen.
Ich starre ihn einen Moment an, bevor ich merke, dass sein anderes Auge offen ist und er mich beobachtet.
Sein Anblick verändert etwas in mir.
Ich habe mich gefangen, bin wieder handlungsfähig.
Ich sehe zu Kevin hin, der im Türrahmen steht. Er nickt, dann tritt er zurück und schließt die Tür.
– 20 –
Ich gehe zum Tisch.
Die Hand des Schranks ist mit der Handfläche nach unten auf einen dicken Holzblock geschnallt, der mich an ein Hackbrett erinnert. Seine Finger sind gespreizt und mit fünf schweren Industrieklammern direkt unterhalb der Knöchel festgetackert.
Überall Blut.
Zuerst denke ich, Gabby muss die Hand des Kerls halbiert haben, aber das stimmt nicht. Er hat genau das gemacht, was er gesagt hat.
Die Kuppe des mittleren Fingers ist in der Mitte gegabelt, und ein Holzkeil spreizt den Knochen fast bis zur Grenze der Belastbarkeit.
Obwohl Gabby mir erzählt hat, was ich zu erwarten habe, dreht sich mir bei dem Anblick der Magen um, und mein Mund wird ganz wässerig.
Ich sehe weg und denke an Diane.
Je lebhafter ich sie mir vorstelle, desto weniger belastet mich das alles hier.
Ich trete näher und starre dem Mann ins Gesicht. Er ist nicht so übel zugerichtet wie der andere, aber gut sieht er nicht aus. Die Nase ist gebrochen, die Augen sind geschlossen, und sein Hemd ist vorn voller Blut und getrocknetem Erbrochenem.
Ich beuge mich über ihn. »Aufwachen!«
Der Mann rührt sich nicht.
Sanft tippe ich
Weitere Kostenlose Bücher