Längst vergangen: Thriller (German Edition)
Finger abgeschnitten haben. Die sind hier irgendwo.
Ich übe mich in Geduld.
Bei Gabby ist das wichtig.
Als wir oben auf der Treppe angekommen sind, öffnet Gabby die Tür und sagt: »Hier ist es.«
Es ist, als würde man ins Land Oz kommen.
Parkettboden, handgewebte Teppiche und bodentiefe Fenster mit Aussicht auf eine funkelnde Skyline. Es ist das Gegenteil von dem, was ich erwartet habe, und für einen Moment verschlägt es mir die Sprache.
Gabby lächelt. »Was hältst du davon?«
Ich bewege mich zum Fenster, sehe hinaus auf die Wand aus Lichtern der Stadt und sage: »Das ist fantastisch.«
»Ja, nicht?« Gabby tritt neben mich und legt die Hände an die Taille. »Wenn man etwas älter wird, beginnt man, die wunderschönen Dinge im Leben zu würdigen.«
»Es ist wunderschön.«
Beide starren wir eine Weile aus dem Fenster, keiner von uns sagt etwas.
Dann ergreift Gabby das Wort.
»Das hier war mal ein Krematorium.«
Und plötzlich weiß ich wieder, wo ich bin.
Ich wende mich vom Fenster ab und sehe Gabby an.
»Hab unten den alten Ofen«, sagt er. »Das verdammte Ding funktioniert immer noch.«
»Unten?«
»Im Keller. Komm, guck dir das mal an.«
Er führt mich um die Ecke und deutet auf eine große, gewölbte Metalltür, die an der Wand hängt.
»Ich hab sie von der Vorderseite des Ofens abgemacht und mit einem Hochdruckreiniger gesäubert. Hat ewig gedauert, aber nachdem ich sie auf Hochglanz poliert hatte, dachte ich, die würde sich gut an einer Wand ausnehmen.«
»Wie Kunst.«
»Genau.« Gabby grinst und bleckt die Zähne. »Kunst.«
Ich starre die Ofentür an und muss ihm unwillkürlich recht geben. Das sieht gut aus. Es ist morbide und düster, aber es hat auch etwas Faszinierendes.
Etwas beinahe Schönes.
– – –
Gabby beendet die Besichtigungstour auf dem Dach.
Er will mir seine Vögel zeigen.
»Brieftauben«, sagt er. »Das ist ein Steckenpferd, und ein kleiner Nebenjob für mich. Eine Beschäftigung für Rentner.«
Ich lache leise.
»Was ist denn so lustig?«
»Du und im Ruhestand. Ich kann mir das nicht vorstellen.«
»Ich kann nicht ewig jung bleiben, Jake. Vielleicht merkst du es gar nicht, aber da draußen hat sich was verändert. Die Welt hat sich verändert, und für Kerle wie mich gibt’s keinen Platz mehr.«
»Wovon redest du?«
»Die Spieler sind jetzt ganz anders. Jetzt sind es die Menschen in Anzügen, die alles im Griff haben. Sie reden und verhandeln undmachen Deals. Vor denen muss man Angst haben, nicht vor dem Typ, der alles aus dem Hinterzimmer einer Eckkneipe steuert.«
»Du warst immer mehr als das.«
»War ich das?« Gabby schüttelt den Kopf. Er zieht ein Päckchen Sonnenblumenkerne aus der Tasche und schüttet ein paar in seine Hand. »Dieser Tage habe ich mein Geschäft und meine Vögel. Das reicht mir. Der Rest spielt keine Rolle mehr.«
Ich sehe, wie Gabby die Vogliere öffnet und die Samen in einem langen hölzernen Futtertrog auslegt. Ich denke über seine Worte nach, und während ich ihn so beobachte, fällt es mir schwer, ihm nicht zu glauben.
Er sieht glücklich aus.
Ich denke an die ganze Zeit zurück, die ich als Kind mit ihm verbracht habe, und ich kann mich nicht entsinnen, ihn jemals lächeln gesehen zu haben.
Ich warte, bis er Den Käfig schließt. Dann zeige ich auf die Vögel und frage: »Was für ein Geschäft ist das denn?«
»Ein kleines«, sagt er. »Ich verleihe die weißen Tauben für Hochzeiten. Manche Leute lassen gern Vögel aufsteigen, und du glaubst ja gar nicht, wie viel sie dafür zu zahlen bereit sind.«
»Ich dachte, man lässt Pfautauben auf Hochzeiten fliegen.«
»Die haben aber nicht den Heimfindeinstinkt. Wer die freilässt, füttert nur die Habichte.« Er klopft an den Draht einer der Voglieren, und die Vögel trippeln herum. »Das hier sind schlaue Kerlchen. Die wissen, was da draußen los ist, und sie finden immer nach Hause, wenn es brenzlig wird.«
Er sieht mich an, und etwas findet zwischen uns statt.
Keiner von uns sagt ein Wort.
Gabby widmet sich wieder dem Bauer und schnalzt den Vögeln leise zu.
Ich sehe auf die Lichter der Stadt und warte.
»Der Kleine hat keine Zunge«, sagt Gabby. »Hat ihm jemand rausgeschnitten.«
Zuerst denke ich, er redet von den Vögeln.
Stimmt aber nicht.
»Der Große hatte noch etwas Kampfgeist, als wir ihn reingebracht haben, also habe ich ihm eine Fingerkuppe in der Mitte mit einem Holzmeißel gespalten und den Knochen mit einem Keil gespreizt. Das hat ihn
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