Laennaeus, Olle
es denn jemals so gewesen?»
«Natürlich nicht. Es geht um das Bild,
das sie von sich haben. Als Ausdruck ihres Nationalismus. Das Bild vom glücklichen
Wohlfahrtsstaat.»
Konrad schaut zu den Teilnehmern der
Kundgebung hinüber. Die meisten sind Männer und Frauen mittleren Alters. Er versucht
sich vorzustellen, was sie denken. Sind sie wütend? Rachsüchtig? Nein, nichts dergleichen.
Die meisten Gesichter sind ausdruckslos. Manche sehen aus, als fühlten sie sich
nicht wohl in ihrer Haut, als hofften sie, dass alles möglichst bald vorbei sein
würde. Konrad hat den Eindruck, dass es sie eher nach Hause vor den Fernseher und
zum Bingo zieht.
«Wie auch immer», sagt Palander. «Wenn's
heiß wird und sie wissen, dass die Presse vor Ort ist, schickt die Partei natürlich
einen smarten Typ wie Mats Blomberg.»
«Und was geschieht nun?
«Schwer zu sagen. Blomberg hatte sich
heute Abend wohl ein bisschen mehr Action erhofft. Einen regelrechten Überfall
dieser Immigrantengang, sodass die Polizei hätte hart durchgreifen müssen. Das wäre
nach seinem Geschmack gewesen. Und die Skinheads wollen sie eigentlich auch nicht
länger in ihren Reihen haben. Die machen sowieso nur Ärger.»
«Und wer waren die anderen?»
«Die Ausländer? Weiß nicht genau. Würde
mich nicht wundern, wenn einer von ihnen mit den Jungs verwandt ist, denen in Onslunda
die Birne weggeschossen wurde. Ich hatte eigentlich vor, dem Knaben mit dem Stinkefinger
ein paar Fragen zu stellen, aber er war ziemlich schnell weg. Muss ich auf morgen
verschieben.»
Spärlicher Applaus aus Richtung des
Kleinlasters signalisiert, dass die Kundgebung zu Ende ist. Palander entschuldigt
sich eilig und geht auf Blomberg zu. Konrad sieht, wie er den Kopf zur Seite neigt,
einige Fragen stellt und sich Notizen in seinem Block macht. Blomberg scheint eine
Menge zu sagen zu haben, und Palander muss ihn mehrmals unterbrechen. Er fuchtelt
mit seinem Stift herum und gestikuliert. Nach ein paar Minuten ist er zufrieden.
Als er zurückkommt, leert sich der
Marktplatz bereits. Konrad schaut in fragende Gesichter, als wären sich die Leute
nicht ganz sicher, was für einer Vorstellung sie da beigewohnt haben. Die Sonne
ist inzwischen hinter dem Gebäude der Sparkasse verschwunden, aber es dauert noch
eine Weile bis zum Sonnenuntergang. «Und?», fragt Konrad neugierig.
«Es gibt drei Sorten von Lügen: Lügen,
gemeine Lügen und Statistiken.»
«Mark Twain», erwidert Konrad schnell.
Palander scheint beeindruckt.
«Die Verbrechensstatistik sprudelt
geradezu wie ein Wasserfall aus ihm heraus. Wenn man all dem glauben soll, gibt
es nicht einen einzigen Schweden, der sich in den letzten fünfzig Jahren eines Mordes
oder einer Vergewaltigung schuldig gemacht hätte.»
«Nichts Aktuelles?»
«Dieselben Phrasen wie immer. Er ist
aalglatt.»
«Ich hab über Ihre Worte nachgedacht»,
sagt Konrad. «Ja?»
«Theoretisch könnte es auch genau andersherum
sein. Das hier ist möglicherweise ganz und gar nicht ihr Traum, vielleicht eher
ein Albtraum. Schlussendlich kann die Story ja auch völlig anders ausgehen, als
sie sich erhoffen: Schwedendemokrat schießt kaltblütig unschuldige junge Männer
nieder.»
Palander schüttelt ungläubig den Kopf.
«Theoretisch ... Aber die Frage ist ja, ob es eine so große Rolle für sie spielt.»
«Wie meinen Sie das?»
«Ich glaube, das Wichtigste ist der
Konflikt. Die Angst. Dass sie Wasser auf ihre Mühlen bekommen und sich weiterhin
darüber beschweren können, dass die Multikulti-Schiene nicht funktioniert. Dass
alles den Bach runtergeht, wenn sich Schwarz und Weiß mischen.»
Sie schütteln sich die Hand und verabschieden
sich. Palander, um einen Artikel zu schreiben. Konrad, um ... tja, er weiß nicht
so genau. Vielleicht, um die Zeit in der Bar totzuschlagen. Besonders verlockend
erscheint ihm der Gedanke allerdings nicht.
Als er in Richtung Hotel schlendert,
kann er eine weitere Person ausmachen, die er wiedererkennt.
Gertrud.
Sie ist gerade am Irish Pub vorbeigegangen,
hat die kleine Kuppe am Bahnübergang passiert und ist kurz davor, um die Ecke in
Richtung Bahnhofsgebäude zu verschwinden.
Er sieht ihr Gesicht nur flüchtig im
Profil. Ihr rotes Haar flattert in einer Windbö.
Aber es besteht kein Zweifel. Es ist
Gertrud.
KAPITEL 9
Die Hitze ist kaum zu ertragen. Konrad
sehnt sich nach dem Meer.
Vor langer Zeit war er einmal zur See
gefahren, um wegzukommen. So weit weg wie nur möglich.
Gerade mal siebzehn
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