Laennaeus, Olle
erstaunt, dass er selber nicht friert, obwohl er nur ein Sommerhemd trägt. Ein
goldgelbes Licht im Osten kündet davon, dass die Sonne durch den Morgennebel hindurch
aufgeht. Keine Menschenseele ist zu sehen, auch keine Katze, die um die Ecke schleicht.
Auf den Dächern zwitschern vereinzelte Vögel als einziger Beweis dafür, dass Leben
im Ort herrscht.
Dennoch ist es eine Nacht, die kein
Ende hat. «Es war schon ... eigenartig», sagt Konrad unsicher. Sie bleibt stehen
und schaut ihn mit Augen voller Versprechen an.
«Sven zu treffen?»
«Alle. Sven und seine neue Partnerin.
Und Palander. Und dich, nicht zuletzt dich.»
Auf Höhe des Parks, in dem alle Laternen
gelöscht sind, spürt er ihre Hand in der seinen. Sie schickt eine Welle der Wärme
durch seinen Körper. Plötzlich ist es, als lichte sich der Nebel. Der Schnapsrausch
legt sich. Wie von Zauberhand wird alles, was eben noch unscharf war, vollkommen
deutlich und klar. Er beugt sich eine Ahnung zu ihr hinüber und saugt ihren Duft
ein. Mit den Fingern spürt er jede noch so unbedeutende Bewegung ihrer Handmuskeln.
Als sie vor der Haustür des roten Ziegelhauses
stehen und er den Schlüssel, den Gudan ihm gegeben hat, in seiner Hosentasche spürt,
sagt sie, als wäre es die natürlichste Sache der Welt: «Du kannst bei mir schlafen,
wenn du möchtest.»
Im Flur stehen unausgepackte Umzugskartons.
Auf dem Küchentisch sieht er einen einsamen Kaffeebecher stehen. Die Blume im Fenster
lässt den Kopf ein wenig hängen. Blasses Tageslicht erfüllt die Wohnung.
Sie warten nicht.
Sie haben beide schon allzu lange gewartet.
Svens roter Pulli liegt bereits auf
dem Boden. Die Bluse mit dem kleinen Blütenmuster ist aufgeknöpft. Im warmen Dunkel
unter dem Stoff sieht er Gertruds weiße Brüste.
Hungrig ergreift sie seinen Kopf und
saugt an seinen Lippen.
Glücklich erforscht er ihren Körper.
Entblößter Hals, geschlossene Augen.
Seine Hände tasten sich voran, er spürt den Schweiß auf ihrem Rücken. Sie nimmt
ihn weich und zugleich hart in sich auf, Fingernägel kratzen auf der Haut.
Dann scheint die Sonne unter dem halb
heruntergezogenen Rollo hindurch und kündigt erneut einen sehr heißen Tag an.
KAPITEL 22
D ie deutlichsten
Bilder kann man im Grenzbereich zwischen Schlaf und Erwachen sehen. Eine Sekunde
oder eine Ewigkeit, so lange bleiben sie.
Erstaunlich, wie viel in eine so unbestimmte
Zeiteinheit hineinpasst, denkt Konrad. Oder vielleicht träumt er das auch.
Man sagt, dass jemand, der ertrinkt,
sein gesamtes Leben innerhalb eines Augenblicks noch einmal Revue passieren sieht.
Konrad sieht sich selbst: der verlassene
Junge. Um den man sich gekümmert hat, den man aber niemals liebte. Oder empfanden
Herman und Signe auf ihre eigene unbeholfene Weise eine Art Liebe für ihn? Herman
lächelt ihn an, sagt aber nichts und berührt ihn erst recht nicht. Signe schielt
über den Rand ihrer Bibel und setzt eine Miene auf, die man wohl als freundlich
bezeichnen kann. Vielleicht hatten sie lediglich Mitleid mit ihm wie mit einem verwaisten
Katzenjungen. Aber was ist mit der Fotografie? Die da zwischen den anderen Fotos
im Wohnzimmerregal stand. Er saß doch oben auf Hermans Schultern. Der Geruch nach
Haarwasser, eine notdürftig mit wenigen Strähnen überkämmte Glatze. Merkwürdig,
dass er sich nicht daran erinnert, wann das Foto aufgenommen wurde.
Aber Konrad sieht noch mehr in diesem
blitzlichtartigen Schnelldurchlauf, der sich vor seinem inneren Auge abspielt: den
aufrührerischen polnischen Jungen, der sich andauernd geprügelt hat und ständig
eins auf die Nase bekam. Ein Raufbold mit Schrammen, blauen Flecken und Beulen und
einem Trotz im Blick, den die Lehrer verabscheuten.
Und der Duckmäuser. Der sich verbrannt
hat und daraufhin begann, das Feuer zu meiden. Den Blick abzuwenden. Loszulassen.
Maria ruft schon seit langem nach ihm.
Er hat Gesichter von Frauen vor Augen,
einige waren bereit, alles für ihn zu opfern, von anderen erinnert er nicht mal
mehr den Namen. Sonja, auch sie verschwindet hinter einer Nebelwand.
Doch Konrad ertrinkt nicht.
Er gleitet wieder an die Oberfläche.
Sonnenstrahlen wärmen seine Augenlider,
und der letzte Bruchteil einer Sekunde, den er im Grenzbereich verbringt, verfärbt
sich goldgelb.
Seine Hand gleitet über das Laken,
das zerknittert und warm ist. Er lächelt erwartungsvoll, glücklich über das, was
seine Fingerspitzen gleich berühren werden. Dort irgendwo ... er tastet... und
spürt
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