Laienspiel
Rücksicht mehr nehmen, er hat sich gestern mit einer großkalibrigen Waffe in den Kopf geschossen. Und warum er das getan hat, das möchten wir gern erfahren. Denn er selbst kann es uns nicht mehr sagen.«
Neumann schluckte. Er schien ehrlich schockiert zu sein ob der unverblümten Wahrheit, die ihm von Kluftinger präsentiert wurde. »Behalten Sie die Umstände aber vorerst bitte für sich, ja? Ich komme möglicherweise noch einmal auf Sie oder einen Ihrer Kollegen zu. Eine Frage noch, Professor«, schloss Kluftinger, »wenn Schumacher mit Ihnen auf diesem Wochenendseminar war, und Sie sagen, er hat sich immer gleich zurückgezogen, wer war denn mit ihm auf dem Zimmer? Ich meine, hatte er unter den … Studentenkollegen Freunde oder Vertraute?«
»Jetzt wo Sie es sagen, kann ich mich erinnern: Er war der Einzige außer mir als Seminarleiter, der ein Einzelzimmer bestellt hatte. Ich weiß das noch, weil sogar meine beiden Assistenten sich mit dem Doppelzimmer begnügt hatten. Aber fragen Sie doch ruhig einmal herum: Irgendeinen hat schließlich jeder, dem er sich anvertraut. Befragen Sie doch seine Kommilitonen«, merkte Neumann an.
Kommilitonen, genau, das war das Wort für Studienkollegen, das Kluftinger zwar eigentlich gewusst, sich aber dann nicht zu verwenden getraut hatte: Schließlich hatte er heute mit Fremdwörtern schon zu oft daneben gelegen.
Als Kluftinger wieder in seinem Wagen saß, ließ er seinen Besuch an der Fachhochschule noch einmal Revue passieren. Und dabei gelang es ihm, die peinlichen Momente außen vor zu lassen, sich ganz auf den Fall zu konzentrieren: Keiner von Schumachers Studienkollegen, die er noch befragt hatte, hatte ihn näher gekannt. Wenn sie überhaupt gewusst hatten, nach wem sie da befragt wurden. Was mochte nur in diesem jungen Mann vorgegangen sein? Warum hatte er solche Angst vor der Polizei, dass er sich geradezu präventiv selbst hingerichtet hatte?
Bevor er ins Büro zurückkehrte, machte Kluftinger einen kleinen Umweg durch die Innenstadt, um sich in der Apotheke ein paar Hühneraugenpflaster mitzunehmen. Schließlich hatte er noch immer keine überzeugende Ausrede für ein Fernbleiben vom Tanzkurs parat. Dick beklebte Füße würden ihn sicher ein ganzes Stück weiterbringen.
In der Direktion angekommen, erwartete Kluftinger die abschließende Konferenz für diesen Tag. Viel hatten die Kollegen zwar noch nicht vorzuweisen, aber ein paar Fakten waren mittlerweile zusammengetragen worden.
Hefele war der Erste, der seine Erkenntnisse darlegte. In seiner gewohnt ruhigen, zurückhaltenden und stets korrekten Art berichtete er kurz und knapp, dass Schumacher in Kempten offenbar so gut wie keine sozialen Kontakte zu unterhalten schien. Er war sechsundzwanzig Jahre alt und studierte im sechsten Semester Maschinenbau, das wüssten sie ja bereits. Eigentlich stamme er von der Schwäbischen Alb und sei dann in Ulm zur Schule gegangen. Man habe bei ihm nichts gefunden, was Rückschlüsse auf sein Privatleben zuließ, kein Notizbuch, kein Telefonverzeichnis.
»Jetzt stellt euch vor«, sagte Hefele, »sogar von seinem Handy sind kaum Anrufe abgegangen. Die meisten Kontakte sind Anrufe ›von unbekannt‹. Wir versuchen gerade über den Anbieter, da noch was rauszukriegen. Sagt selber, das macht ihn doch nicht ganz geheuer, oder?«
»Also jetzt mal halblang, Kollegen«, schaltete sich Bydlinski ein. »Mach ich eh auch, dass ich meine Nummern unterdrücken lasse, und die Bezahlnummern für die Damen lösch ich aus dem Speicher. Ist nicht so toll, wenn das Frauen sehen, dass man da hin und wieder ein Schwätzchen hat. Was soll jetzt daran ›nicht geheuer‹ sein, Kollegen? Ich bin ja auch geheuer, oder?«
Ungeheuer, dachte Kluftinger. Hefele machte eine kurze Pause und sah zu seinem Vorgesetzten, der ihm zunickte. Nicht aus der Ruhe bringen lassen, sollte das heißen.
»Wie dem auch sei«, fuhr Hefele fort und bedachte den österreichischen Kollegen mit einem derart bösen Blick, dass Kluftinger es beinahe mit der Angst bekam, »er hat keine Angehörigen. Seine Eltern sind beide ums Leben gekommen. Interessanterweise im Ausland: Sie waren während des Balkankrieges in Serbien und Albanien eingesetzt, arbeiteten für die KFOR und das Auswärtige Amt. Bombenanschlag auf einen Konvoi, mit dem sie unterwegs waren. Der Junge hatte damals gerade Abitur gemacht. Und dann: beide Eltern auf einmal.«
»Buum, buum«, tönte es aus Bydlinskis Richtung, und alle Anwesenden, vor allem
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