Laienspiel
die ganze Zeit rum – keine Ahnung. Wenn du willst, kannst ja du morgen mal einen Blick drauf werfen. Ich lasse alles aus der Wohnung holen«, sagte Willi. Grinsend fügte er hinzu: »Obwohl, wenn ich’s mir so überlege, du kannst ja mit Elektronik bald noch weniger anfangen als mit Verblichenen.«
Kluftinger beschloss, endlich Feierabend zu machen. »Du, ich pack’s, Willi. War ein ganz schön stressiger Tag heut. Und du? Räumst du noch dein Gruselkabinett ein?«
»Ein paar Sachen noch, dann mach ich auch Schluss. Der Umzug liegt mir echt im Magen. Bis da erst mal wieder alles an seinem Platz ist!«
»Ja«, stimmte Kluftinger zu, »wie soll nur aus den ganzen Einzelteilen jemals wieder eine funktionierende Maschinerie werden? Da gerät ja alles aus dem Takt.«
Wie vom Donner gerührt sah Willi Renn den Kommissar an. Dann sprang er abrupt auf, stolperte beinahe über einen Aktenstoß, der zum Einpacken am Boden lag und nahm sich seine Jacke. »Klufti, ich muss weg!«
»Willi, was …«, rief der Kommissar ihm nach, doch in diesem Moment knallte bereits die Tür ins Schloss.
Kluftinger war perplex. Er konnte sich das Verhalten seines Kollegen beim besten Willen nicht erklären. Aber immerhin: So hatte er wider Erwarten noch einmal Gelegenheit, sich nach dem Foto umzusehen.
Er ging also zurück an Renns Schreibtisch. Das mit dem Computer würde wohl nicht hinhauen. Aber sicher hatte Renn bereits Ausdrucke des Fotos herumliegen. Nachdem Kluftinger auf dem Schreibtisch nichts dergleichen gefunden hatte, zog er eine Schublade auf. Er griff hinein und vergrub seine Hand in einem Stapel Papier. Darunter ertastete er einen festen Gegenstand. Er lugte in die Schublade und zog einen menschlichen Unterkieferknochen heraus. Mit einem schrillen Aufschrei warf er ihn zurück und verließ fluchtartig den Raum. Es wurde wirklich Zeit, dass er nach Hause kam.
»Hallo? Halloho, ich bin daheim!«
Keine Antwort. Offenbar war niemand zu Hause. Kluftinger wunderte sich: Erika hatte ihm gar nicht gesagt, dass sie heute noch weggehen wollte. Dass Markus mal wieder nicht da war, überraschte ihn wenig. Seitdem er sein Praktikum bei der Kemptener Polizei ableistete, sah er ihn mehr im Präsidium als daheim. Aber Erika? Heute war weder Kirchenchor noch Gymnastik.
Schließlich zuckte er die Achseln, stellte seine Tasche ab, zog seine Schuhe aus und ging ins Schlafzimmer. Was nun folgte, hatte sein Sohn Markus einmal hochtrabend »die Verwandlung« genannt. Für Kluftinger war es jedoch einfach nur das tägliche Ritual, mit dem er sich für den Feierabend fertig machte. Es lief immer gleich ab: Seine Hose flog auf den »Gwandsessel«, sein Hemd landete auf dem Bett. Wie immer – zu Erikas Leidwesen – so zerknautscht, dass man es nie und nimmer ein weiteres Mal hätte anziehen können. Dann lief er zum Schrank, um seine bequeme Freizeitkleidung anzulegen.
Als er am großen Spiegel vorbeikam, hielt er inne. Er legte den Kopf schief und betrachtete sich. Dabei zog er reflexartig den Bauch ein und stemmte die Hände in die Hüften. Gut, dass ihn Erika jetzt nicht sehen konnte: Sein Unterhemd steckte in der weißen Doppelripp-Unterhose, die er so weit nach oben gezogen hatte, dass sie bis über seinen Bauchnabel reichte. Seine Frau mochte es gar nicht, wenn er das Unterhemd in den Slip steckte, noch dazu so weit, dass es bei den Beinen wieder herauskam. Er dagegen hasste nichts mehr als mehrere Schichten Kleidung, die sich irgendwo im Grenzgebiet zwischen Hose und Slip zu einem Stoffknäuel zusammenballten.
Sein Blick wanderte weiter nach unten zu seinen Füßen. Sein rechter Kniestrumpf war bis zum Knöchel heruntergerutscht.
Kluftinger klatschte sich auf seinen eingezogenen Bauch und nickte dann seinem Spiegelbild zu. »Gar nicht übel, Meister!«, sagte er anerkennend. »Kann sich alles noch sehen lassen.«
Das Geräusch eines hupenden Autos vor der Tür ließ ihn zusammenzucken. Schnell holte er seine dunkelblaue Trainingshose aus dem Schrank und zog sie eilig an, gerade, als habe er etwas Verbotenes getan.
Eigentlich war der Begriff »Trainingshose« für das Kleidungsstück eine irreführende Bezeichnung: Sie hatte in den vielen Jahren ihres Daseins noch keine einzige Trainingseinheit mitgemacht. Dennoch sah sie schon reichlich mitgenommen aus, was daran lag, dass Kluftinger sie über alles liebte und sich in diesem Fall gegen Erika durchgesetzt hatte, die sie schon mindestens ein Dutzend Mal zuerst in der
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