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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Rettungsring, damit ich nicht in der Sehnsucht ertrank, ihn zu küssen. »Wir sind uns erst vor ein paar Tagen begegnet. Wir kennen uns gar nicht«, brachte ich mühsam hervor.
    Luke ließ mich los. »Wie lange dauert es denn, bis man jemanden kennt?«
    Diese Frage konnte ich nicht beantworten. »Einen Monat? Oder ein paar Monate?« Es klang albern, so etwas zahlenmäßig festzulegen, vor allem, da ich meiner eigenen Argumentation nicht folgen wollte. Aber ich konnte doch nicht einfach jemanden küssen, über den ich nichts wusste – das verstieß gegen alles, was mir beigebracht worden war. Warum war es dann so schwer, nein zu sagen?
    Er nahm meine Hand. »Dann warte ich.« Sein Gesicht im Dämmerlicht unter den Bäumen war so wunderschön. Seine hellen Augen glühten beinahe. Es war sinnlos.
    »Nein, das will ich nicht«, flüsterte ich. Noch ehe ich dasletzte Wort ganz ausgesprochen hatte, lagen seine Lippen auf meinen, und ich schmolz dahin. Meine Hände – wie hatte ich mir nur Gedanken darum machen können, was ich mit ihnen anstellen sollte? – packten sein T-Shirt, berührten seinen schlanken Körper, während er die Arme um mich schlang.
    Schließlich löste er sich von mir und strich an meinen Armen hinab, bis er meine Finger fand. »Niemand könnte je so gut riechen wie du. Sie können dich nicht haben.
Ich
will dich haben.«
    Ich biss mir auf die Lippe. »Ich glaube, ich muss dir etwas zeigen. Aber bring mich lieber in eine Kirche, nur zur Sicherheit.«
     
    Die Kirche war leer und düster im trüben Abendlicht, und es roch nach Weihrauch und Geheimnissen. Ich tauchte die Finger ins Weihwasser und bekreuzigte mich aus reiner Gewohnheit, ehe ich Luke den Gang zwischen den Bänken entlangführte.
    »Was willst du mir denn zeigen?« Seine Stimme klang ernst und gedämpft vom Teppichläufer unter unseren Füßen.
    Ich wusste nicht, wie ich es ihm zeigen sollte, aber er musste von meiner Telekinese erfahren. Vielleicht wollten die Feen mich ja deshalb haben. Lautlos führte ich ihn ganz nach vorn, als mir etwas einfiel. Ich pflückte eine gelbe Rosenknospe von einem der Blumenarrangements auf den Stufen zum Altar.
    Ich wandte mich wieder zu Luke um und sah, dass er traurig zum Kruzifix an der Wand aufschaute, ehe er den Blick senkte und zuerst mich ansah, dann die Knospe in meiner Hand. Wir standen einander gegenüber wie in einer einsamen Hochzeitszeremonie.
    »Weißt du noch, was du mir vor dem Wettbewerb gesagt hast?«, fragte ich.
    Sein Blick verfinsterte sich. »Nein«, antwortete er knapp.
    Ich ließ mich nicht beirren. »Dass manche Menschen alles tun können?«
    Er wandte sich hastig von mir ab. »Ich wollte dich nur ablenken. Damit du dich nicht übergeben musst. Und es hat funktioniert, stimmt’s?«
    »Lüg mich nicht an«, erwiderte ich heftig. »Du hast es
gewusst
. Ich weiß nicht, woher, aber du
wusstest
, dass ich einer von diesen Menschen bin, nicht wahr?«
    Er stand immer noch mit dem Rücken zu mir, senkte den Kopf und presste sich die Faust an die Stirn. »Nein. Das bist du nicht. Sag mir, dass du nicht so bist.« Das Licht der Kerzen um Marias Füße erhellte nur seine Wange und ließ den Rest seines Gesichts im Schatten.
    »Das kann ich nicht sagen!
Sieh her.
« Ich hielt ihm die Knospe in den hohlen Händen hin. Mit kummervoller Miene wandte er sich um. Innerhalb einer Sekunde entfalteten sich die Blütenblätter eines nach dem anderen. Schließlich war die Blüte so groß, dass sie jeden meiner Finger berührte. Ich starrte auf die gelben, samtigen Blütenblätter, die meine Hände umfingen, und schaute wieder zu ihm auf.
    Luke schlang sich die Arme um den Oberkörper. »Beeindruckend«, sagte er leise.
    Ich verstand seine Reaktion nicht. »Aber du wusstest doch, dass ich so etwas kann. Warum sonst hättest du mir das sagen sollen?«
    Er wandte sich wieder ab und zog die Schultern hoch. »Würdest du mir einen Moment Zeit lassen?«
    Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hätte es ihm nicht zeigen dürfen. Andererseits hatte er es doch gewusst, oder nicht? Was hatte ich getan? Hastig lief ich den Gang zurück und trat durch die Doppeltür in die Vorhalle. In dem düsteren Raumblieb ich stehen und starrte mit leerem Blick auf die Aushänge von Flohmärkten und Bibelstunden am Schwarzen Brett.
    »Verdammt sollt ihr sein! Warum?«,
hörte ich ihn schreien.
    Ich spähte durch die Glastüren nach drinnen, ob er mit irgendeiner Fee sprach, aber für meine Augen war in dieser Kirche niemand

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