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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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nicht, wo es jetzt war. Ich blickte mich im Zimmer um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
    »Echte Schatten verschwinden nicht.« James’ Stimme klang tonlos. »Willst du, dass ich rüberkomme?«
    Natürlich wollte ich das. »Meine Eltern würden ausflippen, wenn ich ihnen davon erzähle.«
    »Deswegen frage ich dich ja, ob ich kommen soll.«
    Rye blickte kurz auf und ließ dann den Kopf wieder auf die Pfoten sinken. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen. Was auch immer hier gewesen war, er fand es nicht bedrohlich. Ich schwankte zwischen dem, was ich wollte, und dem, was ich brauchte, ehe ich mich für die weniger egoistische Lösung entschied.
    »Ich komme klar. Rye schläft schon wieder. Er würde sich anders verhalten, wenn da etwas wäre, wovor wir uns fürchten müssen, glaube ich.«
    James seufzte, wenn auch nicht so zufrieden wie Rye. »Du kannst mich nicht anrufen und mir solche Sachen erzählen, so dass ich mir Sorgen um dich mache, und dann behaupten, es wäre nichts.«
    »Tut mir leid. Kann ich morgen früh bei dir vorbeikommen?«
    »Jederzeit, das weißt du doch.«
    Nachdem ich aufgelegt hatte, wartete ich eine ganze Weile darauf, dass die Gestalt wieder erschien, doch das tat sie nicht. Schließlich übermannte mich die Erschöpfung, und ich schlief wieder ein.

Buch Zwei
     
     
     
     
     
    Bald lasse ich dich hier zurück und segle auf See hinaus.
    Dann schreib ich feine Briefe dir
    und schütt’ mein Herz dir aus.
    Ich schütt’ mein Herz dir aus,
    denn nirgends sah ich ein Mädchen so schön.
    Noch hab ich die Hoffnung,
    dich in Holy Ground einmal wiederzusehn.
    Nirgends sah ich ein Mädchen so schön.
    Noch hab ich die Hoffnung,
    dich in Holy Ground einmal wiederzusehn.
    »T HE H OLY G ROUND «

Sechs
     
     
     
     
     
    Der nächste Tag war klar und überraschend angenehm. Das Gewitter in der Nacht zuvor hatte die schwüle Hitze vertrieben. Auf dem Beifahrersitz des alten Audi mit Luke neben mir konnte ich kaum glauben, welche Angst mir das Gewitter eingejagt hatte. Oder dass ich seine Unterhaltung mit einem unsichtbaren Gegenüber so unheimlich gefunden hatte. Oder dass der sommersprossige Freak tatsächlich in unserem Garten aufgetaucht war.
    Es war unglaublich – immer, wenn Luke bei mir war, waren mir all die Dinge gleichgültig, die mich sonst in den Wahnsinn trieben. War das Liebe?
    Nein
, sagte eine verärgerte Stimme in meinem Kopf.
Das ist Dummheit. Und sie braucht dir nicht peinlich zu sein, liegt eben in der Familie.
    Eine Stunde lang unterhielten wir uns über irgendwelchen Unsinn, an den ich mich später kaum erinnern konnte. Warum »Bill« eine Abkürzung für »William« war und es keine gestreiftenHunde gab. Wann immer ich dachte, der Gesprächsstoff sei uns ausgegangen, fiel einem von uns etwas Neues ein.
    »Bukephalos.« Luke tätschelte das Lenkrad.
    »Gesundheit.«
    Er lachte. »Nein, so heißt mein Auto.«
    »Du hast deinem Auto einen Namen gegeben?«
    Er lächelte schelmisch.
    Ich schaute auf meine Füße hinab. Der Teppich war fleckig und rollte sich am Rand von der Tür weg. »Und es noch dazu nach dem Pferd von Alexander dem Großen benannt. Das ist hoffentlich ironisch gemeint?«
    »Du weißt also, wer er war. Du kennst die Geschichte.« Lukes Zähne schimmerten weiß im Sonnenlicht, als er mit großer Geste auf das Armaturenbrett wies. »Das ist auch unsere Geschichte.«
    »Deine und die des Autos.«
    »Genau.«
    Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du willst mir also erzählen, dass niemand sonst auf der Welt dieses Auto fahren kann. Dass es alle, die es versucht haben, hinausgeworfen, überfahren und mit Reifenspuren im Gesicht liegen gelassen hat. Und eines Tages bist du als kleiner Junge eingestiegen und hast es deinem Willen unterworfen?«
    Seine Augen blitzten vor Vergnügen, während sich sein Mundwinkel nur zu einem angedeuteten Grinsen verzog. »So ist es. Und seither sind wir unzertrennlich.«
    Ich dachte darüber nach und musterte das verblasste, zerschrammte Armaturenbrett. »Ich weiß ja nicht, aber ich an deiner Stelle hätte eher versucht, einen Maserati zu zähmen als einen Audi.«
    Er lachte. »Was soll ich sagen, das Schicksal hat eben dieses Auto für mich ausgewählt.« Er zeigte nach vorn. »Schau mal.«
    Endlich kamen wir nach Richmond. Vorstädte zogen an uns vorbei, die allmählich Bürogebäuden und Läden wichen. Richmond war eine unglaublich
helle
Stadt. Überall reflektierten weiße Bürgersteige, verspiegelte Fassaden,

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