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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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schlüpfte in die Küche, warf einen Blick auf Luke und stöhnte.
    Er blickte an seinem durchnässten T-Shirt hinab. »Du hast eine halbe Ewigkeit gebraucht, um diese Tür aufzusperren, was erwartest du? Wo ist der Trockner? Ich werfe es schnell rein, solange du dich umziehst«, sagte er.
    Bei der Vorstellung von Luke ohne T-Shirt fühlte sich mein Mund mit einem Mal staubtrocken an. Ich zeigte ihm die Waschküche und trat eilig den Rückzug in mein Zimmer an. Die unförmige blaue Strickjacke ließ ich im Schrank und schlüpfte stattdessen in eine taillierte weiße Hemdbluse und einen khakifarbenen Rock – ein Outfit, von dem ich hoffte, dass es die Botschaft
professionell, aber sexy
verkündete. Im Gegensatz zu Moms blauem Twinset, das eher nach
verklemmter, spießiger Musik-Streberin
aussah.
    Ich ging wieder nach unten und vorsichtig durch das trübe Halbdunkel. Es war merkwürdig, ohne den Rest meiner Familie zu Hause zu sein. Ohne das Plappern des Fernsehers, Delias laute Stimme oder das stete Brummen von Moms großem Mixer kam mir das Haus sehr still und leer vor. Das einzige Lebenszeichen war das langsame, rhythmische Wummern des Wäschetrockners. Ich dachte an Luke, der in der Küche stand und auf mich wartete. Dieselbe Anspannung, die mich vor einem Auftritt überkam, erfasste mich.
    Ich traute mir selbst nicht recht über den Weg.
    Ich betrat die trübe Küche und sah Lukes blasse Silhouette.Er lehnte am Küchentresen und schaute aus dem Fenster. Ohne sein Hemd konnte ich seinen Oberkörper zum ersten Mal richtig sehen – nichts als Muskeln, eine perfekt gestählte, tödliche Maschine. Flache Narben zeichneten eine geheimnisvolle Karte auf seine Schultern und lenkten meinen Blick zu dem schimmernden Armreif an seinem Bizeps. Seine leichte Kopfbewegung verriet mir, dass er mich gehört hatte, doch er starrte noch ein paar Sekunden lang in den Regen hinaus, ehe er sich umdrehte.
    »Das ging ja schnell.« Als er vor mir stand, sah ich die größte Narbe von allen: ein riesiger, formloser, heller Fleck über seinem Herzen. Ich versuchte gar nicht erst, meine Neugier zu verbergen, sondern trat vor ihn hin. Vorsichtig berührte ich das erhabene, verwachsene Narbengewebe, während sich eine Erinnerung in mein Bewusstsein schob.
    Ich hatte sie schon einmal gesehen, im Grabmal auf dem Friedhof. Aber diesmal konnte ich länger hinschauen. Luke lehnte mit dem Rücken an einem alten Holzhaus und drückte sich die Spitze seines Dolchs gegen die Schulter. Sorgfältig ritzte er eine feine Linie in die Haut bis hinab zu dem Armreif, als wollte er ihre Dicke prüfen. Blutstropfen quollen hinter der Klinge hervor. Der Ausdruck in seinen Augen ließ mich schaudern – sie waren vollkommen leer. Der nächste Schnitt war tiefer, trotzdem zuckte er noch immer mit keiner Wimper. Stattdessen zog er die Klinge weiter nach unten, über den Armreif hinweg. Der nächste Schnitt ging noch tiefer. Aber das war Wahnsinn! Falls er versuchte, sich von dem Armreif zu befreien, war die Mühe vergebens, denn der Reif selbst blieb von der Klinge unberührt. Er saß sicher und fest um seinen Bizeps, während er sich den Arm zerfleischte, bis ein dichter roter Schleier jeden neuen Schnitt verbarg und den goldenen Reif völlig bedeckte.
    Schließlich ließ Luke mit zitternder Hand das Messer sinken, und ich seufzte erleichtert auf. Zu früh. Blitzschnell stieß er sich den Dolch in die Brust und verdrehte ihn grausam. Endlich erschlafften seine Hände und lösten sich vom Griff, während sein Kopf nach hinten kippte und sein Körper zuckte.
    Ich schnappte nach Luft, riss mich mühsam aus der Erinnerung und blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. »Du hast versucht, dich umzubringen.« Es laut auszusprechen, machte die Erinnerung realer. Ich starrte ihn an. »Du hast versucht, dich umzubringen?«
    Luke schluckte und verharrte still wie eine Statue.
    Ich bemühte mich, dieses Teilchen in das Puzzle einzufügen, und zeichnete mit dem Finger die blassen Narben über und unter dem Armreif nach. »Warum hast du dir so etwas angetan?«
    »Du hast es doch gesehen.« Er sah mir fest in die Augen. »Warum nicht?«
    Sechzehn Jahre katholischer Erziehung lagen mir auf der Zunge, doch ihre Antworten schmeckten wie Staub, also schwieg ich. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nicht zu antworten brauchte. Dass ich nicht sprechen wollte. Stattdessen schlang ich die Arme um seinen hageren Körper und schmiegte die Wange an die Narbe auf seiner

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