Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
Schulter, wo er den ersten Schnitt gesetzt hatte.
    Behutsam legte Luke den Kopf auf meinen. Sein Atem ging ruhig und tief, und auch mein Herzschlag verlangsamte sich und passte sich seinem an. Ich spürte seinen Mund, seinen heißen Atem auf meiner kühlen Haut. Er küsste meinen Hals, zärtlich und beharrlich zugleich. Ein Teil von mir drängte mich, ihm Einhalt zu gebieten, solange ich noch bei Verstand war. Doch der weitaus größere Teil von mir sehnte sich zu sehr danach – ich wollte spüren, wie er eine Spur von Küssen meinenHals hinaufzog, unter meinem Ohr vorbei, den Kiefer entlang, bis seine Lippen meine fanden und mir den Atem raubten. Sein leicht würziger Duft stieg mir in die Nase, ich spürte seine Finger, die sich in meinen Pferdeschwanz gruben. Mein Verstand schrie zwar
Nein, das geht zu weit!
, doch mein Körper schien mir nicht länger zu gehorchen und schmiegte sich noch enger an ihn.
    Ein stechender Schmerz in meinem Herzen ließ mich nach Luft schnappen, und Luke erstarrte. Er wich zurück und griff sich an die Brust. Seine Augen verdüsterten sich. Als der Schmerz erneut in meiner Brust aufflammte, erschauerte Luke und kniff die Augen zu.
    »Was passiert hier?«, flüsterte ich. Doch der glühend heiße Finger strich erneut über mein Herz, und diesmal verkrampfte sich Lukes ganzer Körper. Taumelnd stieß er gegen die Arbeitsfläche und riss einen Topfdeckel herunter, der scheppernd auf dem Boden landete. Mit zitternder Hand versuchte er, sich am Küchentresen festzuhalten, brach aber auf dem Boden zusammen. Der Armreif glühte weißlich, von irgendeiner schreck-lichen Magie zum Leuchten gebracht.
    Erst jetzt begriff ich es. Das war nicht mein Schmerz – es war seiner. Was ich spürte, war nur ein Schatten, eine Art übertragener Schmerz, hervorgerufen durch die seltsame Magie, mit der ich uns auf dem Friedhof verbunden hatte. Ich kniete mich neben Luke, der im Rhythmus der brennenden Wellen zitterte, die durch meine Brust rasten.
    »Luke.« Ich berührte sein Gesicht, worauf er mich anstarrte und sich auf die Lippe biss. »Was geschieht mit dir?«
    Es war entsetzlich, mitansehen zu müssen, wie sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, wie sehr er sich bemühte, nicht aufzuschreien. Seine Stimme klang angespannt. »Ich – werde – bestraft.«
    Ich hob abrupt den Kopf und schaute zum Fenster, ob uns jemand beobachtet haben könnte.
    »Wegen dem, was ich – Eleanor – gesagt habe«, erklärte Luke. Er stöhnte und krümmte sich um die vor der Brust geballten Fäuste.
    Ich erinnerte mich an Eleanors Gesicht, an ihre verblüffte Miene, als sie ihn gefragt hatte, warum er mich nicht töten könnte. Ich sei doch bloß ein Mädchen. Dieses elende Miststück! Ich war nicht bloß ein Mädchen. Ich war ein Mädchen mit übernatürlichen Kräften jenseits von Gut und Böse! Ich legte meine Hand auf Lukes Brust, spürte den langsamen, gequälten Herzschlag unter seinen Rippen.
    Ich schloss die Augen und versuchte, das Gefühl heraufzubeschwören, mit dem ich Kleeblätter über Tische huschen ließ. Vor meinem geistigen Auge sah ich das Feuer in Lukes Brust, das die Flügel einer verzweifelten Taube versengte. Die Flammen spiegelten sich rot und orange im schwarzen Auge der Taube und verzehrten eine Feder nach der anderen. Schwarz verkohlt und nutzlos blieben sie zurück.
    »Geh aus«, flüsterte ich. Doch das Feuer brannte weiter, und die Taube riss den Schnabel auf und starrte in den Himmel. Ihre Augen waren leer vor Schmerz. Ich musste mich konzentrieren. Womit löschte man Feuer? Indem man ihm den Sauerstoff entzog, richtig? Ich stellte mir vor, wie die Luft von den Flammen weggesogen wurde, vor der Hitze floh und dem Feuer nur noch Leere überließ.
    Die Flammen flackerten und begannen auf einem Flügel zu schrumpfen, während der Schmerz in meinem Herzen eben-falls zu flackern anfing.
    »Nein«, keuchte Luke, und als ich die Augen öffnete, sah ich, wie er den Kopf schüttelte. »Nein, tu das nicht. Lass mich einfach.«
    »Warum?«
    »Sie wird es
merken
.« Ich spürte, wie sein Herzschlag unter meiner Hand ins Straucheln geriet. »Sie – wird genau wissen, was – du kannst. Bis jetzt – rät sie nur.«
    Der Schmerz war jeder Faser seines Körpers anzusehen. »Ich kann doch nicht einfach zusehen, wie du leidest.«
    »Ich habe – sie belogen … Behauptet, du – wärst keine – Bedrohung.« Er wandte das Gesicht ab und biss sich auf die Lippe, die schon blutete. »Bitte, Dee –

Weitere Kostenlose Bücher