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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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heraus und wählte seine Nummer, während ich im Stillen betete, er möge abheben. Ich wollte nur noch raus aus diesem Zimmer, weg von meiner Familie. Und sogar weg von James, der in der Tür stand und so tat, als hätte er unseren Streit nicht mitbekommen. Weg von allem, was sich in meinem Leben gerade abspielte.
    »Hallo?« Lukes Stimme klang leicht verzerrt, dennoch weckte sie augenblicklich die Sehnsucht, bei ihm zu sein.
    »Luke?«
    Beim Klang dieses Namens wandte James den Blick ab.
    Doch Lukes Stimme ließ mich das vergessen. »Ich habe an dich gedacht.«
    Ich dachte an die Leichen in dem Graben. »Und ich an dich.« Mehr wollte ich vor meinem sichtlich wenig begeisterten Publikum nicht sagen. »Äh, ich bin im Krankenhaus. Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«
    Luke sagte sofort zu und versprach, bald da zu sein. Jamesverabschiedete sich mit einem unverständlichen Murmeln und floh, ehe ich mir überlegen konnte, was ich ihm sagen sollte. Und Mom stand nur mit verschränkten Armen da und musterte mich.
    Ich wappnete mich für weiteren Streit. »Was ist jetzt noch, Mom?«
    »Zieh dein blaues Twinset an.«
     
    Ich wartete seit zwanzig Minuten neben dem Krankenhauseingang, als ich Bukephalos durch den dichten Regen kommen sah, ein dunkler Schemen in einer grauen, formlosen Welt. Eine Mischung aus Nervosität, gespannter Erregung und endloser Erleichterung ließ mich erschauern. Der alte Audi hielt unter dem Betonvordach, von dem der Regen auf den Asphalt tropfte.
    Als ich zum Auto lief, zuckte ein blendend greller Blitz auf, ehe ein Donnerschlag die Luft erzittern ließ. Einen Moment lang war ich vollkommen taub. Hastig schlüpfte ich ins Auto und schlug dem Gewitter die Tür vor der Nase zu.
    Als Luke anfuhr, überkam mich ein seltsames Gefühl der Erleichterung, als wäre ich von einem Schmerz erlöst, den ich zuvor gar nicht gespürt hatte. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
    »Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.«
    Sobald ich seine Stimme hörte, kümmerte es mich nicht mehr, dass er völlig falsch für mich war. Ich war so froh, neben ihm zu sitzen, dass es mir schwerfiel, irgendetwas anderes sonderlich wichtig zu nehmen. Ich wusste, dass das egoistisch war, aber auch das kümmerte mich nicht.
    Ich wandte mich ihm zu. Er erwiderte meinen Blick ohne ein Lächeln. Ich bemerkte die dunklen Ringe unter seinen Augen – Folgen der vergangenen Nacht. »Hallo, hübsches Mädchen.«
    »Ich bin so froh, dich zu sehen«, erwiderte ich wahrheitsgetreu.
    »Du ahnst nicht, wie sehr ich mir gewünscht habe, das zu hören.« Er seufzte ebenso tief wie ich. »Wohin?«
    »Erst nach Hause, meine Harfe holen. Und mein beschissenes blaues Twinset.«
    »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte Luke. Ohne den Blick von der Straße abzuwenden, griff er in die Hosentasche und drückte mir Grannas Ring in die Hand.
    »Du hast ihn aus dem Abflussrohr geholt?« Ich steckte ihn sofort wieder an. Nun, da ich wusste, wie nützlich er war, fand ich ihn nicht halb so hässlich wie vorher. Geistesabwesend strich ich mit dem Finger über den eisernen Rand und blickte in den Regen hinaus. Wind peitschte gegen die Scheiben. Wieder erhellte ein Blitz das Wageninnere, und ich verzog das Gesicht, schon bevor der Donner krachte. »Toller Abend für eine Party.«
    Luke warf einen Blick in den Rückspiegel, obwohl hinter uns nichts war als eine graue Regenwand. »Das Gewitter wird rechtzeitig vorbei sein. Aber diese vielen Blitze.« Seine Miene verdüsterte sich. »Hinterlassen eine Menge Energie in der Atmosphäre.«
    Ich erriet, woran er dachte. »Die Art Energie, die Eleanor für ihren Verschwindetrick benutzen könnte?«
    »Das Verschwinden macht mir keine Sorgen«, erwiderte er. »Eher das Auftauchen.«
    Schaute er deshalb ständig in den Rückspiegel? Der Gedanke brachte mich dazu, selbst immer wieder einen Blick in den Seitenspiegel zu werfen, bis wir zu Hause ankamen, obwohl nichts zu sehen war außer Wasser, das von den Reifen hochspritzte.
    Luke hielt in der Einfahrt. »Möchtest du hier warten, während ich die Harfe hole und mich umziehe?«
    Luke spähte über meine Schulter zu dem leeren Haus hinüber, das hinter einem Regenschleier kaum zu erkennen war. »Ich will nicht, dass du allein da drin bist. Ich komme mit.«
    Wir sprangen aus dem Auto und rannten zur Hintertür, wo ich mit fahrigen Bewegungen versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, um uns so schnell wie möglich ins Trockene zu bringen. Ich

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