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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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endlich auf, so zu grinsen. Du hast hier die Finger im Spiel, hab ich recht?«
    »Mach dich nicht lächerlich«, gab Delia zurück, ehe sie etwas lauter hinzufügte: »Komm nur herein, Deirdre.«
    James und ich wechselten einen Blick, dann folgte ich ihm ins Zimmer. Mom und Delia standen links und rechts des Bettes. In der grünlich-weißen Beleuchtung des Krankenzimmers schien alle Farbe aus ihren Gesichtern gewichen zu sein.
    Mom sah mitgenommen aus. Ihr Blick richtete sich auf mich. »Deirdre. Ich wusste nicht, dass du so früh kommst.«
    »James hat mich hergebracht«, sagte ich überflüssigerweise und deutete auf ihn.
    »Ich gehe jetzt etwas essen«, zwitscherte Delia und grinste Mom mit gebleckten Zähnen an. »Es sei denn, du brauchst mich hier noch?«
    Mom funkelte sie in einer Weise an, die keinen Zweifel an ihren Gedanken ließ –
Verpiss dich!
–, und Delia verschwand. Ich spähte an Mom vorbei zu Granna, konnte aber nur ein Durcheinander aus Schläuchen und Apparaten erkennen. Meine Stimme klang vorwurfsvoller, als ich beabsichtigt hatte.»Du hast doch gesagt, sie wäre hingefallen.« Ich trat an die Bettkante, und Mom rückte abrupt von mir ab.
    Granna lag vollkommen reglos da, ordentlich zugedeckt, die Hände zu beiden Seiten auf der Bettdecke. Sie hatte keine sichtbaren Verletzungen, nichts wies darauf hin, was die Feen ihr angetan hatten oder was ein »Elfenschuss« sein mochte. Aber sie war nicht wach, sondern schien tief zu schlafen – vielleicht war sie auch bewusstlos.
    Ich fuhr zu Mom herum, und mein Blick fiel auf James, der mit hängenden Schultern dastand. Offenbar hatte er Grannas Zustand schneller eingeschätzt als ich. »Was fehlt ihr denn?«
    Moms Stimme klang nüchtern, sachlich, so, als halte sie ihre Gefühle noch immer sorgsam unter Verschluss. »Sie liegt im Koma. Niemand weiß, warum. Sie ist nicht gestürzt. Sie war nicht krank. Sie ist einfach ins Koma gefallen, und niemand weiß, wann sie wieder aufwachen wird. Sie haben alle möglichen Untersuchungen gemacht, ein MRT und so weiter, und bis jetzt sieht alles ganz normal aus. Aber auf ein paar Ergebnisse warten wir noch. Sie sagen, sie könnte jeden Moment wieder aufwachen.«
    Oder noch hundert Jahre so daliegen.
Ich blickte auf Granna hinab, die wie tot in diesem Krankenbett lag. Aber ich war nicht bestürzt über ihren Anblick, ich fühlte gar nichts. Es war, als sähe ich eine Fernsehsendung, mit mir und meiner Familie als Hauptdarsteller, während mein wahres Ich sicher im Wohnzimmersessel saß. Ich fragte mich, ob es mir wieder so gehen würde wie nach dem Angriff der Raubkatze. Vermutlich würden mich die Emotionen später überfallen, wenn ich mich in Sicherheit wähnte.
    Mit einem Mal verdüsterte sich der Raum um mich herum. Ich stand im Zwielicht im Freien. Starrte auf schlammverspritzte Kleider in einem Graben, halb im Wasser liegend und inunnatürlichen Winkeln, bei deren Anblick sich mir der Magen umdrehte. Es dauerte einen Moment, bis ich im Dämmerlicht erkannte, dass es sich um Leichen handelte, deren Glieder zu einem makabren Puzzle angeordnet waren.
    Eine weiße Hand packte meinen Arm unterhalb des neuen glänzenden Armreifs. Die Hand gehörte einem hochgewachsenen jungen Mann mit einer auffälligen goldenen Strähne im braunen Haar. »Komm schon, Luke. Komm. Sie sind tot«, sagte er gelassen.
    Ich starrte auf die Leichen hinab, spürte Kälte und eine barmherzige Leere in mir. In gewisser Weise war ich erleichtert, dass ich keine Tränen für meine Brüder hatte. Wenn ich weinte, würde ich erblinden. Ich würde Stunden damit zubringen müssen, die Tropfen herzustellen, damit ich
sie
wieder sehen konnte. Würde mich stundenlang fragen müssen, was
sie
gerade taten, während ich sie nicht wahrnahm.
    »Luke. Du kannst nichts mehr tun.«
    »Wenn ich hier gewesen wäre …«
Hier gewesen wäre, statt
ihrem
Befehl zu folgen

    »Dann wärst du jetzt auch tot.« Der junge Mann mit der Goldsträhne zog an meinem Arm. »Komm mit uns fort. Wir werden dich vergessen lassen.«
    »Das werde ich niemals vergessen.« Luke schloss die Augen, und das Bild der geschundenen Körper brannte hinter seinen Lidern.
    »Deirdre, James spricht mit dir.«
    Ich brauchte einen Moment, um die Realität von Lukes Traum zu trennen und den Gestank von Schlamm und Tod gegen den antiseptischen Geruch des Krankenhauses einzutauschen. Ich blinzelte und wandte mich zu James um, der an der Tür stand. »Ja?«
    »Ich habe gesagt, es tut mir

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